Päng! macht sich auf die Suche nach begnadeten Wort-Akrobaten und potenziellen Pulitzer-Preisträgern. Im Klub der Republik, Berlin, trafen wir auf Juri Sternburg. Gestatten – unser erster Päng!Pulitzer geht an den jungen Herren mit der Lederjacke.
von Juri Sternburg
Mein Smartphone hatte mir bereits angekündigt, dass Sie in Kürze erscheinen würde. Ich war froh diesen Service nutzen zu können, immerhin gibt es schon lange keine Schuhe putzenden Kinder auf dem Ku‘damm mehr, da kann so ein technisches Hilfsmittel nicht schaden. Es erfüllt den Zweck der bezahlbaren Unterwürfigkeit zu genüge, denn wenn man es berührt, springt es an. Es widersetzt sich nicht und gibt erst recht keine Widerworte. Als Sie um die Ecke bog, war ich dementsprechend vorbereitet und ließ mir meine leichte Nervosität nur bedingt anmerken. Wozu auch nervös sein, Sie war mir unterlegen, zumindest vom Intellekt her. Als ich Sie schließlich sah, war ich etwas enttäuscht und um ehrlich zu sein, hatte ich mehr von Ihr erwartet: Behäbig und leicht gleichgültig fügte Sie sich in ihr nicht gerade anspruchsvolles Umfeld ein, eine Art lethargische Hysterie umschmeichelte ihre äußere Hülle. Gelb war anscheinend nach wie vor die Farbe der Saison. Als würde Sie meine wiederholte Ablehnung vergangener Tage nicht im geringsten stören, präsentierte sie sich schamlos und heruntergekommen, wie eh und je, in der Öffentlichkeit. Eine ganze Weile schon vermied ich jeden Kontakt mit ihr und doch war ich erschüttert, als ich Sie nun genau so vorfand, wie ich Sie damals verlassen hatte: laut, viel zu voll und leicht heruntergekommen. Eigentlich genau mein Typ, aber wie sollte ich das meiner Mutter erklären?
Trotzdem oder sogar deswegen bestieg ich Sie. Ein Signal ertönte, die Türen flogen jaulend zu, der Zug setzte sich in Bewegung und ich war zurück. Zurück in einem fahrbaren Kriseninterventionsraum, einem unfreiwilligen Konstrukt der Gemeinsamkeit. Die Menschen um mich herum schienen nicht wahrzunehmen, was diese mit Wechselstrom betriebene Maschine repräsentierte, sie waren mit anderen, weniger eigensinnigen Maschinen beschäftigt. Unaufhörlich wischten sie über die kleinen Bildschirme, als ginge es darum, ein ima- ginäres Curlingspiel zu gewinnen. Ihrem Enthusiasmus nach zu urteilen, musste es sich mindestens um das Halbfinale einer Weltmeisterschaft handeln, Finnland gegen Norwegen vielleicht; auf jeden Fall Länder, in denen Curling aufgrund mangelnder Alternativen eine wesentliche Rolle spielt. Auf dem nächsten Bahnsteig beobachtete ich einen verwirrten Obdachlosen, er warf 10-Cent-Stücke in den Automaten, immer und immer wieder. Die anderen potentiellen Ticketkäufer wurden ungeduldig, einige fragten sich, warum dieser offenbar verwahrloste Wirrkopf überhaupt einen Fahrschein kaufen wollte. Ein Punker in der ersten Klasse einer Lufthansamaschine würde wohl ähnlich viel Aufmerksamkeit erregen. Nachdem der Obdachlose sein gesamtes Erspartes in den Ticketautomaten geworfen hatte, drückte er den »Rückgabe«-Knopf und rief laut »Jackpot!!«, während die unzähligen Münzen klimpernd aus der Maschine fielen und zu seinen Füßen aufkamen. Die Anstehenden schüttelten den Kopf, anscheinend fühlten sie sich ihrer spärlich bemessenen Zeit beraubt, ohne zu merken, welches Geschenk ihnen soeben bereitet wurde.
Niemand der Anwesenden saß freiwillig neben seinem Sitznachbarn – von den wenigen Zweckpartnerschaften einmal abgesehen. In den unzähligen sozialen Netzwerken wiederum kann man sich aussuchen, mit wem man kommuniziert, der Vorteil lag klar auf der Hand, bloß keine ungewollten Überraschungen erleben. Lieber mittelmäßige Sicherheit statt risikoreiche Außergewöhnlichkeiten. Neben mir tippte jemand »Achtung, Achtung: Täglich verschwinden Rentner im Internet, weil sie »Alt«+»Entfernen« gleichzeitig drücken!« in sein Handy. Diese Statusmeldung garantierte bestimmt einige Lacher. Das virtuelle Tagebuchschreiben entwickelt sich zum Volkssport, denn jeder Tag ist eine Statusmeldung-Olympiade. Führen wir also eigentlich nur öffentlich Tagebuch? Der schottische Schriftsteller James Boswell drückte es so aus: »Nur so viel erleben, wie man aufschreiben kann.« Die Forderung der Aufrichtigkeit, die dem Tagebuch eine eigene Disziplin verleiht, beruht ja auf diesem moralischen Anspruch der Aufzeichnungen: Sie sollen im Idealfall (indem sie Fehler und potentielle Laster ehrlich und ohne falsche Scham aufzeichnen) zur Besserung des Verfassers beitragen. Im virtuellen Tagebuch ist das Gegenteil der Fall. Aber was kümmert mich das eigentlich, weder bin ich ein schottischer Schriftsteller noch erforsche ich die menschlichen Verhaltensweisen, geschweige denn, dass ich dafür zuständig bin, ihre selbst gebauten Lügengebilde einstürzen zu lassen. Für so etwas gibt es Veronika Ferres, da ist das alltägliche Lügengebilde in jeder Bewegung sichtbar. Wie sie da alle so saßen, waren sie ein leichtes Opfer, doch das war es nicht, was ich brauchte. Ich suche Gegner, keine Opfer. Ich will Reibung, keine Gefälligkeiten. Opfer gibt es genug. Der viel zu blasse Junkie auf dem Klappsitz war definitiv so ein Opfer seiner selbst, schon alleine weil seine Hand zu sehr zitterte, um die stündliche Heroinportion aufzuteilen. Wenigstens erlebte er genau jetzt diese temporäre Realität um ihn herum, wenn auch nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Mittel seine Wirkung zeigen würde.
WENN MAN NUR AB UND ZU ETWAS HEROIN NÄHME, OHNE GLEICH SÜCHTIG ZU WERDEN, KÖNNTE MAN VIELLEICHT VERSTEHEN, WAS IHN TÄGLICH NACH DRAUSSEN ZIEHT, SO MUSS ES LEIDER BEI VERMUTUNGEN BLEIBEN.
Vielleicht hat er zu Hause einfach kein Internet. Es gibt harte Schicksale. Ich fragte mich, ob all die Handywütigen wenigstens den immensen Geruch von Kotze wahrnahmen oder ob das Flackern der Bildschirme auch ihre Geruchssinne verenden ließ.
Die U-Bahn fuhr einfach weiter, als würde es sie gar nicht interessieren, mit wie viel Gleichgültigkeit sie wahrgenommen wird. Ich dagegen konnte sie sprechen hören, metallisch und bestimmt: »Komm an meine Lippen, hier ist es hart, gemütlich und indiskutabel!« Wenigstens sie war bereit ein menschliches Statement abzugeben. Die mit ihren Telefonen Beschäftigten waren wesentlich liebloser. Aber was hätten sie auch sagen oder tun können. Als die Türen sich erneut öffneten, diesmal an einem Knotenpunkt der städtischen Gleisanlagen, ström- ten die Menschen ungleichmäßig hinaus. Alles wirkte so unfreiwillig, so gezwungen, als wären sie die Süßigkeiten einer Pinjata, der man nun mit einem Baseballschläger gewaltsam den Bauch geöffnet hatte. Unaufhörlich strömten die Bonbons, Schokoriegel und Lutscher hinaus aus ihrer Schutzhülle und verteilten sich auf dem Bahnsteig. Ich floh in Reih und Glied. Zuhause angekommen, öffnete ich die Fenster und ließ die immer noch kalte Luft hinein. Alles, was man hörte, waren Autos, sich öffnende oder schließende Haustüren, ab und zu das Piepen einen modernen Rangierhilfe. Ein Kind weinte, wurde jedoch schnell von der Mutter eines Besseren belehrt, schließlich führt schreien zu gar nichts. Wenn man 8 Jahre, 7 Monate und 6 Tage schreien würde, hätte man gerade mal genug Energie produziert, um eine Tasse Kaffee zu erwärmen. Da ist eine Maschine bedeutend effizienter und vor allem leiser. Aus der Nachbarwohnung drang ebenfalls nur das Rattern einer Tastatur. Meine Nachbarn waren generell nicht gerade das, was man kommunikativ nennt, wobei ich ihnen die Fähigkeit zu skypen nicht absprechen möchte.
WENN SIE BEI MIR KLINGELN, DANN NUR, UM SICH ÜBER DIE LAUTE MUSIK ZU BESCHWEREN. WENN SIE JEMANDEN BRAUCHEN, DER IHNEN EINEN SCHRANK IN DEN VIERTEN STOCK TRÄGT, VERÖFFENTLICHEN SIE EIN HILFEGESUCH IM INTERNET.
Ab und zu kann ich ihnen beim Vögeln zuhören, aber auch das klingt maschinell. Es fällt einem schwer, sich zu wehren gegen all die maschinellen Unterwürfigkeiten. Doch was kann man tun, um dem zu entgehen? Man sollte den Maschinen den Kampf erklären, real und metaphorisch. Molotowcocktails und Steine helfen hier nicht, die strategischen Köpfe der Maschinen fliegen bekanntermaßen durch den Weltraum. Vielleicht sollten wir uns alle mit dem Schwert bewaffnen und fechten lernen. Wenn wir Sie dann im Schwertkampf stellen, ritterlich, dann sind auch Sie gezwungen, ritterlich zu kämpfen. Sie müssten das Schwert nehmen, denn das gebietet die Ritterlichkeit, die ja das einprogrammierte Fundament der dienenden Maschine sein sollte. Dann können wir den revolutionären Kampf in Waffengleichheit ausfechten und haben so eine echte Chance zu gewinnen. Real wie auch metaphorisch.
Endlich hatte ich einen Plan: Fechten lernen.
J U R I S T E R N B U R G Dramatiker und TAZ-Kolumnist, selbst ernannter Rhetorikgott und Kneipenphilosoph, Graffitisprüher, Theaterautor und Armleuchter. Geboren in den 80er Jahren in Berlin Kreuzberg und trotz etlicher Auswanderungsversuche immer wieder dort sesshaft. Arbeitet zurzeit an unzähligen Romanen, Theaterstücken und Drehbüchern, Erscheinungsdatum nach dem Ende der Welt, sprich 2013. Ansonsten: dies und das

No Comments