MENSCHEN ERZÄHLEN

Kindheit ohne Grenzen

von SteffenWeber

Jeder kennt den Spruch: »Diese Jugend heutzutage!« In den meisten Fällen wird er herablassend benutzt, um Verhaltensweisen der jüngeren Generation pauschal zu kritisieren. Ich empfinde ihn eher als mitleidvoll: Meine Jugend oder Kindheit möchte ich nicht mit einer von heute tauschen. Warum? Kinder der heutigen Zeit haben eine Rundumbetreuung der besonderen Art. Sie sind entweder bei ihren Eltern, im Kindergarten oder in der Schule. Ich sehe kaum noch Kinder die schmutige Sachen anhaben. Ich kam meistens verdreckt vom Spielen nach Hause und hatte auch nicht selten aufgeschürfte Stellen. Wir taten damals Dinge, für die wir oder unsere Eltern heute schnell auf der Titelseite einschlägiger Zeitungen landen würden. Ich erinnere mich zum Beispiel noch gut daran, als ich für meinen Vater und Großvater des Öfteren Bier geholt habe – und zwar im zarten Alter von 5 Jahren. Das Bier holte ich in einer offenen Alukanne. Ich ging zu Rosl (so hieß die Wirtin) und Rosl füllte mir
die Kanne bis zum Rand. Ich bestand immer darauf, dass der weiße Schaum schön überquoll. So hatte ich meine Leckerei für den Nachhauseweg. Das Bier schmeckte mir damals nicht. Aber der Schaum!

Dann war da ein Chemielehrer, der uns aufforderte Experimente selbst zu machen. Angefangen hatte das mit einem Chemiebaukasten aus DDR Produktion, der in der Grundausstattung schon sehr professionell war. Heute
wird alles was nur halbwegs als gefährlich eingestuft wird aus solchen Chemiekästen für Kinder entfernt. Experimentieren hat aber auch etwas mit Gefahr zu tun! Ich versuche etwas, und weiß nicht was passiert. Das ist spannend und gefährlich! Man lernt es, mit der Gefahr umzugehen. Auch das spätere Leben ist nicht ohne Gefahren, auch wenn wir das gern hätten. So manches Mal rauchte es aus dem Hinterhaus. Die Vorstellung, dass heute ein Junge im Hinterhaus mit Chemieexperimenten und brennbaren Stoffen hantiert ist wohl für die meisten Menschen eine Bildschlagzeile wert. Bei mir wurde es »NUR« eine erlebnisreiche Kindheit und immer eine »1« in Chemie.

„Verhängt man heute über ein Kind Stubenarrest – es ist keine Strafe mehr.“

Wenn ich es mir recht überlege, hatten wir damals keine Freiheiten und Freiräume der besonderen Art. Vielmehr waren es Dinge, die man damals als selbstverständlich betrachtet hat, die man heutzutage erst wieder zu schätzen lernt: Bäume, verwilderte Hecken und Plätze, Straßen auf denen zwischen acht und 16 Uhr vielleicht zwei Autos verkehrten, vergessene Bodenkammern und Zimmer, alte, verlassene Häuser und ein intaktes soziales Umfeld. In der ganzen Umgebung war ich als guter Kletterer bekannt. Bereits mit vier Jahren erkletterte ich alle Bäume in der Umgebung. Das Nachteilige für meinen Vater war, dass ich bis in die Wipfel der höchsten Bäume kam – aber nie herunter. Die Nachbarn riefen meinen Vater und er befreite mich aus dem Dilemma. Heute ist es kaum vorstellbar, dass Eltern Ihre Kinder überhaupt so lange aus den Augen lassen, dass Sie die Möglichkeit hätten überhaupt auf irgendeinen Baum zu klettern. Wir hingegen hockten stundenlang in Büschen oder Hecken und beobachteten die Umgebung. Dabei kam es natürlich zu Interaktionen mit Personen, die vorbei kamen. Bei diesen Gelegenheiten lernte man schnell, was möglich war und was nicht. Wir warfen Steine und kleinere Früchte auf die Leute oder riefen Ihnen mehr oder weniger nette Worte zu. Das machten wir nicht aus Böswilligkeit; es machte einfach Spaß und vertrieb die Langeweile. Aber auch das hatte einen Sinn: Legte man sich mit einem älteren Kind an, gab es Prügel oder man war einfach schneller. Übertrieb man es bei Erwachsenen, hatte das in der Regel keine direkten Auswirkungen. Hier wurde man dann später von seinen Eltern angesprochen »was man sich wieder erlaubt hat«. So lernte man völlig allein, wie man sich vernünftig verhält.

Rückblickend würde ich mein Elternhaus als streng bewerten. Die beliebtesten Strafen waren Prügel, Stubenarrest und Fernsehverbot. Als am schlimmsten habe ich mit Abstand den Stubenarrest empfunden. Schläge und Fernsehverbot gingen schnell vorbei und konnte man auch gut vor den Freunden verbergen. Aber Stubenarrest – gern auch mal für mehrere Wochen verhängt – das hat sich schnell herumgesprochen. Es war schlicht die Höchststrafe! Verhängt heute doch einmal über ein Kind Stubenarrest. Es ist keine Strafe mehr.

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