TEXT & FOTOS Christin Hüske & Matthias Schiffel
»Coffee Coffee! Chai Chai!« So sehr uns dieser eintönige, alle fünf Minuten erklingende Singsang gestern noch nervte, so willkommen war er am heutigen Morgen. Das menschliche Leben im Zug erwachte, das der vier-, sechs- und achtbeinigen Passagiere zog sich langsam zurück. Nach 14 Stunden Fahrt hatten wir die 750 Kilometer von Delhi aus hinter uns gebracht, die erste und einzige pünktliche Ankunft auf dem Subkontinent. Nachdem sich die eigentliche Fläche der Toilette verdreifacht und der Boden vollends in einen Mülleimer verwandelt hatte, blieb nur noch die Aussicht aus dem weit geöffneten Fenster. Die endlosen Felder und ärmlichen Hütten hatten sich zu beiden Seiten der Schiene in urbanes Gebiet verwandelt. Langsam kam ein langgezogenes rotes Gebäude mit kleinen Türmchen in Sicht. Wir waren am Ziel – dem Bahnhof von Varanasi, dem Tor zur ältesten Stadt der Welt (um diesen Rang kämpft Benares, oder Kashi, wie es traditionell genannt wird, mit Städten wie Rom, Jerusalem oder Damaskus) und der heiligsten Stätte für alle Hindus. Hier suchte sich der Gangesstrom einen neuen Weg, wand sich für ein kurzes Stück in Richtung seines Ursprungs im Himalaya.
Wir waren uns bewusst über die geografische und religiöse Bedeutsamkeit dieser Stadt. Jedoch nicht im Geringsten vorbereitet waren wir auf die grenzenlose und für uns fremdartige Auseinandersetzung mit Leben und Tod, mit Schönheit und Vergehen, mit Riten und Lebensweisen, mit Menschsein und animalischen Trieben. Auf Varanasi kann dich nichts vorbereiten. Auch ein alleiniges Schauen ist ungenügend. Nur ein geistiges Sehen ermöglicht ein Verstehen des Lebens von Menschen in und mit dieser Stadt. Das Erleben dieses Ortes fügt sich aus unvergesslichen Einzelbildern zusammen, die auf einer stringenten Reihenfolge aufbauen, gesetzt den Fall, man hat Zeit und Muße, sich auf sie einzulassen.
FLIEGENGESCHWADER TUMMELT SICH AUF RANZIGEN PFÜTZEN UND FAULENDEM GEMÜSE.
Das erste Bild trifft die sensible, touristische Seele kalt und herzlos. Es stößt dich auf Berge von Müll aus Plastik und weggeworfenen Lebensmitteln, in denen ausgezehrte Hunde mit ihren feuchten Schnauzen wühlen und Kleinkinder mit nacktem Hintern hocken. Auf öffentlichen Kloaken am Straßenrand und schwarzen Rauch von verbranntem Fleisch, der wie eine Glocke über der Stadt hängt. Fliegengeschwader tummelt sich auf ranzigen Pfützen und faulendem Gemüse. Auf der holprigen, engen Hauptstraße, welche sich parallel der Ghats* entlang zieht, dröhnt das ohrenbetäubende Geräusch zahlloser Hupen von Tuck-Tucks, Rikschas, Autos und Mopeds. Im Sekundentakt lassen sie die Gehörknöchelchen erzittern und formen eine grelle, abgehackte Melodie, die als Tinitus nachhängt, sollte man ihr entkommen sein.
Viele Einheimische tragen Tücher vor ihren Gesichtern, um sich vor Abgasen und Dreck zu schützen. Alle paar Meter kreuzt ein heiliges Rind die Straße – der Verkehr staut sich, denn alle gewähren dem Tier den gebührenden Vortritt. Von alledem sind Augen und Nase völlig überfordert, der Kopf schwirrt. Zu diesem Zeitpunkt will man raus. Einfach raus – aus Dreck und Verwesung. Den für diese gnadenlose Szenerie unzureichend bedeckten Fuß wieder unbedenklich einen vor den anderen setzen können, der brütenden, stickigen Hitze entfliehen und frische Luft atmen.

Hinduisten sorgen sich sehr darum, wie und als was sie wiedergeboren werden. Wie so oft ist dies Resultat des irdischen Daseins. Nirgendwo sonst ist das Bemühen um ein redliches und aufopferungsvolles Leben so durchdringend ehrlich zu empfinden wie in Indien. Doch auch hier sind religiöse Dogmen und damit einhergehende Widersprüche nicht zu übersehen. Denn an keinem anderen Ort konzentriert sich das Bemühen um das redliche und richtige Sterben und die Reise danach so wie in Varanasi. Wer nach seinem Tod hier an den Ufern des Ganges verbrannt wird und dessen Asche »Mother Ganga« übergeben wird, entgeht dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburt. Doch die vermeintliche Immaterialität wahren Glaubens und die Resignation angesichts des allgegenwärtigen und doch nicht greifbaren Kastensystems machen sich bemerkbar. Hier werden reich neben reich und arm neben arm verbrannt.
Wir sind nun am Marnakarnika-Ghat, dem heiligsten aller Ghats. Nebenan hat die Regierung Indiens ein modernes Krematorium gebaut, denn die Leichenverbrennung unter freiem Himmel ist seit Jahren verboten. Das Gebäude ist unbenutzt. Am Ufer brennen die Feuer Tag und Nacht. Bis zu dreihundert Tote werden hier innerhalb von 4 Tagen verbrannt. In den Hospizen stapeln sich die Alten und Kranken, denn es gilt, nach dem Tod keine wertvolle Zeit zu verlieren.

1.800 Euro für 380 kg Mangoholz, welches mittlerweile im Umkreis von 1.000 Kilometern um Varanasi nur noch spärlich wächst, Reise- und Unterhaltskosten für sich und die Verwandtschaft, und nicht zuletzt Geld für das heilige Feuer des nahen Tempels, während die Angehörigen um den Aufgebahrten trauern – das ist der Preis der Erlösung. Mittendrin, den Mund offen vor ehrfürchtigem Staunen, hat man das Gefühl, dass selbst ein Zwinkern zu lang dauert. So rational die Umstände, so zeitweise ironisch der Blick auf das Handeln des Einzelnen in diesem Land und so erstaunt ob der uns so fremden Rituale – dies ist weder eine religiöse noch eine gesellschaftliche Kulisse. Dies ist eines der Bilder, die man nie mehr vergessen möchte, eines von so vielen in dieser Stadt.
NEIN, DANKE, WIR WOLLEN NICHT FOTOGRAFIEREN.
Unser Guide sagt, er wäre keiner. Eine »Donation» ist der Ersatz für den Preis einer Führung. Der Dame hinten rechts sollten wir lieber nicht die Hand geben, sie hat Lepra. Fotos dürfen wir nicht machen. Das funktioniere nur mit polizeilicher Erlaubnis. Verständnisvolles Nicken. Wir sind im dritten Stock eines Hospizes, mit bestem Blick über eine Kulisse, die sich einbrennt wie keine zweite. Da keine Polizei vor Ort ist, könne er in Vertretung der Behörden gegen einen Obolus eine Erlaubnis erteilen. Nein, danke, wir wollen nicht fotografieren. Das Bild war festgehalten. Der Geist speichert …
Der süßliche Duft …, – ist es Mango oder Mensch? Das Tanzritual des weiß gekleideten und kurzgeschorenen Mannes, des nahesten männlichen Verwandten, beginnt. Nebenan ist es beinah vorbei. Ein etwa vierzehnjähriger Junge wirft ein halbverkohltes Bein zurück auf den Haufen, der Körper soll möglichst vollständig verbrennen. Zwei Hunde hängen nach dem Geschlechtsakt noch aneinander, ein Rind kaut auf dem Blumenschmuck einer Toten, ein Fischer wirft Müll in den Fluss und unweit nimmt ein Gläubiger sein tägliches rituelles Bad. Keiner nimmt Kenntnis von den Touristenbooten, welche mit Kameraobjektiven im Anschlag das sonderbare Theaterstück begaffen. Es ist pur, das Leben in der Stadt der Ewigkeit.
* Ghat nennt man in Indien eine zu einem Gewässer hinunter führende Treppe.
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