PÄNG!TRIP

El Camino – Dem Geheimnis auf der Spur

Den Camino kann man nicht beschreiben. Tolle Landschaften, körperliche Strapazen – und viel Zeit die Gedanken kreisen zu lassen. Kein Satz und kein Bild können vermitteln, wie es sich anfühlt, nach Stunden in urwüchsiger Natur plötzlich vor einer 800 Jahre alten Brücke zu stehen, das Holz zu riechen, den Fluss zu hören, der unter ihr hindurch fließt. Deshalb werde ich das auch nicht tun. Stattdessen erzähle ich von mir, von meiner inneren Reise und von den Menschen, denen ich auf ihr begegnet bin.

TEXT & FOTOS Robert Felgentreu

WENN EINER EINE REISE TUT

Der Camino de Santiago endet in Santiago de Compostela. Einige gehen sogar noch einen Schritt weiter bis nach Finisterre, das Ende der Welt – da war man sich für lange Zeit ziemlich sicher. Startpunkte gibt es viele. Theoretisch beginnt vor jeder Haustür ein eigener Jakobsweg. Seit über 1.000 Jahren pilgern die Menschen von überall in Europa und der ganzen Welt zu Fuß, per Rad oder auf dem Rücken eines Pferdes oder Esels zum vermeintlichen Apostelgrab des heiligen Jakobus in den Nordwesten Spaniens. Der populärste und historisch bedeutendste Weg ist der Camino Frances. Er beginnt in den französischen Pyrenäen und führt dann auf knapp 800 Kilometern ins galizische Santiago. Etwa 180.000 Menschen jeglicher Herkunft, aller Alters- und sozialen Schichten machten sich allein im letzten Jahr auf den Weg. In diesem Jahr werden es noch mehr – manche aus religiösem Eifer, andere aus sportlichem, die Meisten aber sind auf der Suche. Auf der Suche nach etwas, das sie verloren oder vergessen haben im Laufe der letzten Monate und Jahre. Oder nach etwas, dass sie noch gar nicht kennen.

Ich selbst bin vor einem Jahr 30 geworden. Ich bin studiert, habe eine wunderbare Freundin an meiner Seite und nehme mir die Freiheit, mein Geld mit dem zu verdienen, was mir Freude bereitet. Kein Grund zur Klage also. Und dennoch: In Zeiten, in denen einem von jedem zweiten Buchrücken Begriffe wie Quarter-Life-Crisis entgegen schreien, bin ich längst der gefährdeten Zone.

Und tatsächlich, irgendetwas war ein wenig aus dem Takt geraten oder eher aus dem Gleichgewicht, wenn ich so an mir herunterschaute. Nicht in letzter Zeit, nicht im letzten Jahr, eher schleichend. Langsam aber sicher rieselte ein gewisses Maß an Unzufriedenheit in mein Leben. Weswegen und worüber war mir nicht klar, doch sie verdrängte beachtliche Teile meiner Unbeschwertheit und staute sich zusehends in der oberen Körpermitte und im Kinnbereich. Ich beschloss, ein Ticket nach Südfrankreich zu buchen, mein Zeug zu packen und mich auf den Weg zu machen. Ich wollte herausfinden, was die Menschen antreibt, sich in Zeiten größtmöglicher Mobilität zu Fuß auf eine Reise zu begeben, um täglich Dutzende Kilometer mit schwerem Gepäck auf dem Rücken zurückzulegen. Mich interessierte, was sie versuchten hinter sich zu lassen oder was sie hofften zu finden. Ich wollte herausfinden, wonach ich suchte. Ich wollte herausfinden, was mich aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Ich wollte meinen Rhythmus wiederfinden, ohne damit bestimmte Vorstellungen verknüpft zu haben. Man kann sagen, ich lief den Jakobsweg, um herauszufinden, warum ich ihn lief.

VORSPRUNG DURCH GEDULD

Walter war der Erste, der aus dem Bus sprang. Walter hatte schnell 300 Meter Vorsprung, als die neuangekommenen Pilger noch in allen Himmelsrichtungen nach Orientierung suchten. Walter kannte sich aus. Walter war mein Mann. Im Pilgerbüro von Saint Jean Pied de Port – dem offiziellen Startpunkt meiner Pilgerreise – hatte ich ihn eingeholt. Er hatte noch etwas vor an diesem Abend, genauso wie ich. Während ein der Großteil der zahllosen Neupilger die Anreise vor Ort ausklingen ließ, machten Walter und ich uns auf den Weg in den nächsten, wenige Kilometer entfernten Ort. Ich wollte loslaufen, dafür war ich schließlich da. Es musste beginnen – nicht morgen, sofort!

Walter ist 70 – noch, wie er betont. Vor sieben Jahren hat er die eigene Firma für Feuerwehrbedarf an seine Kinder überschrieben. Seit fünf Jahren läuft er den Jakobsweg – jedes Jahr, immer dieselbe Strecke. »Frag mich nicht, warum. Ich weiß nicht einmal, wie ich dazu gekommen bin. Ich dachte eben, das könnte man mal machen.« Er erzählt mir von seiner Leidenschaft für das Jagen, die Hege und Pflege des Waldes, von seinen Kameradschaften und Sammlungen. Walter braucht die Herausforderung und sammelt Beweise. Er braucht Ziele und er weiß, wie er sie erreicht. Er kann einfach nicht damit aufhören. Er kann nicht locker lassen. Mehrmals in den ersten Tagen der Wanderschaft ließ er mich mit Verweis auf seine leichte Erkältung davonziehen. Doch wohin ich auch kam, ganz gleich wie schnell oder lange ich unterwegs war: Walter war meist schon da. Es ist die Beharrlichkeit eines 70-Jährigen, die ihn antreibt, nicht der Körper eines 30-Jährigen. Ich begriff, dass Geschwindigkeit und Strecke unterschiedliche Einheiten sind. Für die Strecke ist die Geschwindigkeit bedeutungslos. Um einen Schritt weiterzugehen, muss man einen Schritt weiter gehen, ganz gleich in welchem Tempo. Das mag banal klingen, bezogen auf das echte Leben ist es fundamental.

MITGEGANGEN; MITGEFANGEN

Auf dem Camino ist es ein wenig so wie in der Sauna. Ob Banker, Bettler oder Konzernlenker – die äußeren Bedingungen sind für alle gleich. Man ist im wahren Wortsinn Teil einer Bewegung, nicht mehr und nicht weniger. Diese Identifikation mit der Gruppe, der Masse der Pilger begann bei mir schon während der Anreise. Immer, wenn ich mit jemandem über meine ersten Erlebnisse sprach, war von »wir« die Rede. Wir fuhren dort hin. Wir liefen hier hin. Wir schliefen in einer Herberge mit so und so vielen Betten. »wir« – das war niemand Bestimmtes, das waren wir Pilger. Ständig kommt man mit anderen Menschen entlang des Weges ins Gespräch. Oft nur kurz, manchmal öfter oder für die Dauer einer Etappe. Und dennoch: Den Camino geht letztlich jeder allein. Ganz anders ist es, wenn man sein Tagesziel erreicht hat. In den Pilgerherbergen, die entweder vom Staat, der Kirche oder von privat betrieben werden, gibt man jegliche Privatsphäre preis. In Mehrbettzimmern verbringt man mit fünf, 20 oder gar 180 anderen Menschen die Nacht. Kein Körpergeräusch und keine Ausdünstung bleiben einem erspart. Neben aufrichtiger Erschöpfung, sind die bewährten Ohrstöpsel das wichtigste Schlafutensil. Wird man nachts wach, was so gut wie garantiert ist, fühlt man sich ob der Kulisse eher an eine lebhafte Tierwelt erinnert, als an eine Horde Kraft sammelnder Menschen.

DIE UMKEHR DER BEWEISLAST

Ich wollte immer allen etwas beweisen. Meinem Vater, dass ich ein guter Fußballer bin, den Älteren, dass ich mit- und weiterdenken konnte, meinen Kritikern, dass sie sich irrten, und meinen Förderern, dass sie es zu Recht taten. Aus diesem Anspruch lässt sich leicht ein Gefängnis des Drucks errichten. Vielmehr noch verstellt er oft die Sicht auf das, was man gern und für sich selbst tut. Irgendwann in den ersten Tagen der Wanderschaft auf dem Camino, so erzählte man mir, läuft man gegen eine Wand. Bei mir war es Tag vier. Meine Beine waren schwer, mein Kopf wie in Watte gepackt, die Muskeln gehorchten nicht mehr richtig. Ich pausierte öfter und ungewöhnlich lange und entschied, für ein kurzes Stück auf der Landstraße anstatt auf dem hügeligen und steinigen Pfad zu wandern. Ich war mir sicher, den mit gelben Pfeilen markierten Camino verlassen zu haben und fühlte mich wie ein Abschreiber in der Schule. Ich lief ein wenig und freundete mich allmählich mit dem Gedanken an, den Bus zu nehmen. Nicht weil ich nicht mehr konnte oder weil die Zeitplanung es erforderte. Einfach so und nur für ein paar Kilometer. Ich wollte die Perfektion zerstören. Ich wollte meiner Wanderung den selbstauferlegten Druck der Makellosigkeit nehmen. Und ich würde es niemandem erklären müssen. Einfach so, weil ich es konnte. Plötzlich entdeckte ich an einem Straßenschild einen gelben Pfeil. Ich war noch immer auf dem Camino und beim Abschreiben gescheitert. Ich nahm nicht den Bus. Es war noch nicht der Tag, um mit alten Gewohnheiten zu brechen.

FREIZEIT

Der fünfte Tag meines Marsches begann wolkenverhangen. Nach etwa einer Stunde öffnete sich der Himmel und gab sein schönstes Lächeln preis. Der Schleier aus Stunden, Kilometern und Tagespensum, der wie dichter Nebel über all meinen Gedanken hing, lichtete sich dagegen nur selten. Es waren diese Momente, die Klarheit schafften. Zunächst völlig unbewusst, beschäftigten mich Erlebnisse der letzten Wochen, Monate oder gar Jahre. Dinge die schon länger in meinem Kopf herumspukten. Ich debattierte mit mir selbst – zum Teil laut hörbar. Ich stellte mir dieselben Fragen und fand die immer gleichen Antworten, vertrat die gleichen Positionen und weckte in mir dieselben Gefühle. Irgendwann jedoch war ich damit fertig und kein anderer Gedanke, kein Anruf, kein Zapping und keine Kaffeepause boten das gewohnte Maß an Ablenkung. In diesen Momenten geschah etwas Merkwürdiges. Je länger ich über etwas nachdachte, das mich aufwühlte, desto positiver wurden meine Gefühle dazu. Ärger verwandelte sich in Distanziertheit, Wut in Nachsicht, Angst in Zuversicht.

„Ärger verwandelte sich in Distanziertheit, Wut in Nachsicht, Angst in Zuversicht.“

Meine Perspektive veränderte sich, ganz einfach weil ich die Zeit dazu hatte. Die Fragen blieben meist die gleichen, die Antworten nicht. Ich machte sprichwörtlich meinen Frieden mit so vielem, das mich zuvor noch um den Schlaf gebracht hatte. Vielmehr noch: Es gelang mir, den Disput in meinem Kopf zu einem Ende zu bringen, mit dem ich einverstanden war, und meine Lehre für die Zukunft zu ziehen. Am Abend erleichterte ich meinen Rucksack um fast zwei Kilogramm. Besitz ist Ballast, schlechte Gedanken sind es auch. Bis zum Ende meiner Reise wurde mein Gepäck jeden Tag leichter – gefühlt und tatsächlich.

DURCHS TAL DER TRÄNEN

Geriet ich am vierten Tag ins Wanken, so ging ich am sechsten zu Boden. Meine Füße waren offen. Jeder Schritt schmerzte. Ich hatte jegliche Freude verloren. Ich schleppte mich von Meilenstein zu Meilenstein, ohne Aussicht auf eine baldige Einkehr. Ich konzentrierte mich auf meinen Schmerz und gab auf. An der Landstraße hielt ich den Daumen nach oben. Das erste Auto fuhr ungebremst an mir vorbei. Nach einigen unbeeindruckt kreischenden 30-Tonnern, deren Bremsweg wahrscheinlich länger gewesen wäre, als die von mir noch zurück- zulegende Strecke, sackte ich am Straßenrand auf meinen Rucksack. Nach einigen hilflosen Minuten entschied ich mich aufzustehen, die Musik in meinem Ohr laut aufzudrehen und weiterzulaufen. Ich schrie halb Fluch, halb Liedtext vor mich her und lieferte mich meinen Schmerzen aus. Vielmehr trat ich ihnen mit jedem Schritt entgegen. Ach was, ich trat ihnen regelrecht in den Hintern. Anderthalb Stunden später fand ich nach insgesamt 35 Tageskilometern meinen Schlafplatz für die Nacht. Ich war nicht ganz so weit gegangen wie erhofft, aber weiter, als ich es noch Stunden zuvor für möglich gehalten hatte. In dem Moment, in dem ich mich mit meinem »Scheitern« arrangierte, fand ich die Kraft weiter zu gehen. Mindestens fünf mal war ich in den nächsten Tagen erfolglos mit dem vagen Plan, zumindest ein paar Kilometer mit dem Bus zurückzulegen. Nicht aus Mangel an Möglichkeiten. Nicht weil ich es irgendjemandem beweisen wollte. Nicht einmal weil ich es mir selbst beweisen wollte. Tatsächlich kann ich es mir bis jetzt nicht erklären. Mein Martyrium zog sich noch bis zum zehnten Tag, als ich halb taub vor Schmerz in einer Klosterschule Quartier und Erholung fand und meine Wanderschuhe gegen ein Paar Sandalen tauschte. Von da an lief ich wie befreit.

RUNWAY, BABY!

Es ist leicht, zur Ruhe zu kommen im unbestimmten Niemandsland der Meseta, in dem Irgendwo zwischen Start und Ziel. Auf den letzten 100 Kilometern vor Santiago jedoch verändert sich der Wanderalltag dramatisch. Denn genau diese Strecke gilt es auf klassische Weise zurückzulegen, um offiziell die Pilgerschaft im Lebenslauf eintragen zu können. Busladungen von Pauschalpilgern wurden entlang der Strecke aus- gekippt und hechteten an mir vorbei. Rucksackbefreit, dafür beladen mit so vielem von dem, was ich auf meiner Reise hinter mir gelassen hatte. Sie stolperten sprichwörtlich über den Weg, die Kamera in der einen, beide Skistöcke in der anderen Hand. Alle paar Meter schauten sie sich hektisch um, als würden sie verfolgt. Ich war versucht, ihnen zuzurufen. »Was ihr sucht, ist dort vorn! Ihr müsst noch schneller gehen, damit ihr schneller dort ankommt.«

SIE HÄTTEN ES VERMUTLICH NICHT VERSTANDEN. VIELLEICHT ABER HATTEN SIE AUCH NICHT DAS GLEICHE ZIEL.

Schwer vorzustellen, rannten sie doch in jede x-beliebige Bar, um sich einen Stempel als schnell trocknenden Beweis für den kräfteraubenden Trip in ihr Pilgerbuch drücken zu lassen. Am Ende des Tages wartete ein wohltemperiertes Hotelzimmer, samt Badewanne und Gepäckservice auf sie. Ich gebe zu, dass ich mich davon beeindrucken ließ. Es ärgerte mich regelrecht. Ich fühlte mich durch sie gestört und den meisten Pilgern, mit denen ich sprach ging es ähnlich. Wie war das noch mit der Unzufriedenheit und der inneren Harmonie? Ich lief Gefahr, meine neugewonnene Ausgeglichenheit zu verlieren, noch bevor ich das Ziel erreichte.

Irgendwann jedoch begriff ich, dass nicht sie es waren, die in meine Welt eindrangen. Im Gegenteil: Diese Menschen waren meine Sneak Preview auf das, was mich in ein paar Kilometern erwartete: das »echte« Leben. Ich war dabei, zurückzukehren in ihre, in meine Welt. Seien wir ehrlich: Was ist schon normal daran, um sechs Uhr morgens aufzustehen, sich den Rucksack umzuschnallen und 35 Kilometer Fußmarsch zurückzulegen, Tag für Tag? Als mir das klar wurde, veränderte sich meine Stimmung schlagartig. Ich begriff es als meine letzte Herausforderung auf dem Weg, so viel wie möglich zu behalten von dem, was mir in den letzten Wochen Harmonie und Gleichgewicht verlieh. Was sollte es sonst wert sein, wenn ich mich schon durch diesen kleinen Vorgeschmack wieder aus dem Takt bringen ließ?

DIE TOUR DEINES LEBENS

»Der Camino ist für mich wie ein Sinnbild des wahren Lebens«, sagt David. »Als ich über den Pass in den Pyrenäen kam, war das wie eine Geburt für mich. Der Weg danach führt Dich mal nach links, mal nachts rechts, in ungeahnte Höhen und tiefe Täler. Es geht bergauf und bergab, eben genauso wie im echten Leben.« Ich denke einen Moment darüber nach. Fast schon witzig erscheint es mir vor diesem Hintergrund, dass wir zur Aufmunterung meistens davon sprechen, dass es von jetzt an bergauf gehen wird. Wo doch der Anstieg für die meisten Menschen die weit größere Herausforderung darstellt. David Masters ist 70 Jahre alt. Vor zehn Jahren diagnostizierten die Ärzte Prostatakrebs. Seine Lebenserwartung taxierten sie auf maximal zwei Jahre. »Da habe ich wohl noch ein paar Jährchen draufgepackt«, sagt er lachend. »Das ist auch ein Grund, warum ich den Camino laufe. Ich bin einfach so dankbar für jeden Tag, den ich auf dieser Erde sein kann. Meine Frau hatte Bedenken, was meinen Trip angeht, meine Kinder genauso. Meine Enkelkinder hingegen feuerten mich regelrecht an: Go Grandpa, go!«

Er lacht und seine Augen füllen sich mit Tränen der Freude. »So ist das Leben – Du weißt nie, was dich hinter der nächsten Kurve erwartet und niemand kann dich vor Unheil bewahren. Was du aber tun kannst, ist bereit sein und offen, für das, was da kommt.« Er schaut kurz gedankenversunken auf sein Smartphone, mit dessen Hilfe er seiner Frau regelmäßig über den Fortschritt seiner Wanderung berichtet.

»ICH VERSUCHE, SO VIEL WIE MÖGLICH VON DEM, WAS ICH HIER GELERNT HABE, IN MEIN ANDERES LEBEN MITZUNEHMEN«, SAGT ER.

»Darin liegt für mich auch das Geheimnis und die zugleich größte Herausforderung dieser Reise. Es gab da einen Moment auf dem Gipfel eines der letzten großen Berge, in dem ich realisierte, dass dieser Weg seinem Ende entgegengeht. Dass er endlich ist, wie das Leben. Ich bin gespannt, was es mit mir macht, wenn ich auf dem großen Platz vor der Kathedrale ankomme. Wenn das Ziel keines mehr ist, das meiner Vorstellung entspringt, sondern konkret wird, sichtbar, anfassbar.

Ich habe so einen Moment schon einmal erlebt, als ich vor Jahren auf dem Markusplatz in Venedig stand. Ich wollte immer an diesen Ort und plötzlich war ich tatsächlich da. Ich bin gespannt, ob es sich ähnlich anfühlt. Ich bin gespannt, wie es sich anfühlt, wenn es wirklich zu Ende ist.«

WAS VOM GEHEN BLEIBT

Nach meiner Pilgerreise bin ich um zahlreiche bewegende Erlebnisse und Begegnungen reicher und um einige inspirierende Gedanken schlauer. So vieles von dem, was einem im Alltag sprichwörtlich im Wege steht, wird auf dem Camino zu einer ganz konkreten Herausforderung. Den zweiten vor dem ersten Schritt gehen? Das möchte ich sehen. Schnell und weit zugleich? Ich bin gespannt, wie lange das funktioniert. Vor Problemen davonrennen? Siehe vorherige Antwort. Auf sich allein gestellt sein? Kein Ersatz für die Momente geteilter Freude.

Wenn der Camino de Santiago also so etwas ist wie ein Sinnbild für das Leben, dann führt es tatsächlich Schritt für Schritt zu mehr Erkenntnis. Das beruhigt mich ungemein. Was die Menschen suchen, ist wohl ganz unterschiedlich. Was die meisten finden, ist ein Zugang zu sich selbst. Ich bin kein anderer Mensch geworden, doch ich bekam die Möglichkeit mehr Zeit mit meinen guten Eigenschaften zu verbringen. Ich habe gelernt, offen zu sein und mich selbst dabei ertappt, wie ich tatsächlich Geduld an den Tag legte. Ich nahm mir die Zeit, mich an kleinen Dingen zu erfreuen und erlaube mir, stolz zu sein auf das, was ich geleistet habe. Warum ich den Camino gelaufen bin? Ich weiß es immer noch nicht. Aber ich bin bereit, weiterzusuchen und freue mich auf das, was dabei als Nächstes auf mich wartet.

Ach ja, neun Kilo habe ich in den knapp vier Wochen verloren – hauptsächlich in der Körpermitte und im Kinnbereich. Zuversicht und Zufriedenheit scheinen tatsächlich zu erleichtern.



ROBERT FELGENTREU Wenn er nicht gerade durch die Gegend wandert, erzählt er Geschichten – in Wort und Bild zumeist. Von Obdachlosen, die im Wald wohnen, kleinen Helden in Haiti oder Klimaschützern in Berlin. Die Jagd nach dem Außergewöhnlichen hat er sich abgeschminkt. Dafür steckt ihm zu viel Besonderes im Gewöhnlichen. Das sichtbar und lesbar zu machen, scheint ihm Aufgabe genug. Demnächst noch mehr. Die Erlebnisse auf seiner Pilgerreise haben ihn nämlich dazu inspiriert ein Buch zu schreiben. Wer nicht warten kann klickt www.bildgetreu.de, auch potenzielle Verlage finden dort den Kontakt, den sie suchen.

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