WENN ICH MAL GROSS BIN, WERDE ICH...

Kräuterfee

Julia Stephan wollte nie zu jenen Menschen gehören, die bis Mitternacht im Büro sitzen, bis sie sich eines Tages genau dort wiederfindet. Auf einer Wanderung in den Alpen beschließt sie, Meetings, Bildschirme und Großstadtleben gegen ihre Leidenschaft zu Kräutern einzutauschen, und wird Erntehelferin. Jetzt ist sie zurück in der Stadt. Rückblick auf ein Abenteuer.

TEXT Christina Schmidt _ FOTOS Julia Stephan

In Marmeladengläsern verwahrt sie diese Gefühle. Luft, Natur, Menschsein. Kleine Blüten versammeln sich darin, grüne Kräuter, Brennessel. »Irre, dieser starke Duft«, sagt Julia Stephan, als sie eines der Gläser öffnet. Mehr Natur ist selten für sie erreichbar, so mitten in der Stadt. Pragmatisch betrachtet sind es getrocknete Pflanzen, aus denen sie sich jeden Morgen Tee brüht. Den sie genießt, weil sie gerne Tee trinkt. Mit ihrem Duft entfaltet sich aber auch ein Pathos, das daran erinnert, wie das Leben noch sein kann. Es führt sie zurück in ihr Alpen-Abenteuer, nach Guarda.

Alltag ist für viele Menschen ein gelebter Gegensatz, von Natur zu täglichem Leben, von sich selbst nah sein zu Arbeit. Früher traf das auf wort- und sprichwörtliche Fließbandarbeit zu, heute ergreift dieser Lebensstil selbst jene Bereiche, deren Beschäftigte gerne glauben, anders zu leben: die Kreativbranche.

Als neuen, einträglichen Wirtschaftsbereich sortiert der Bund hier Designer, Filmschaffende, Software-Unternehmen, Werbeschaffende und andere Berufe ein, setzt Förderprogramme auf und schmückt sich mit dem guten Image der Kreativen. Soziologen sehen hingegen eine Branche, deren Beschäftigte sich selbst prekarisieren: Zugunsten vermeintlicher Freiheit und Flexibilität unterwerfen sich die Kreativen befristeten oder scheinselbstständigen Arbeitsverhältnissen, halten phasenweise extreme Arbeitspensen aus. Sie pflegen einen Lebensstil aus Dynamik, Trends und Beschleunigung. Julia Stephan ist seit zehn Jahren Teil dieser Branche. Sie würde sich selbst auch so behandeln, hätte sie nicht ihre Kräuter entdeckt.

Julias Geschichte ist von schnellem Aufstieg bestimmt. Nach der Schule absolviert die Berlinerin eine Ausbildung, reist ein halbes Jahr um die Welt und zieht dann schließlich zum Studi- um nach Stuttgart um. Anschließend findet die Verpackungsentwicklerin bald Arbeit in einer großen Agentur. Anders als viele Kreative hat sie Glück und bekommt einen festen Vertrag, gutes Gehalt, leitende Aufgaben. »Das war eine tolle Agentur«, erzählt die 28-Jährige, »sie haben mir viel ermöglicht.« Trotzdem überkommt sie das Gefühl, sie fände dort nicht, was sie suche. Stattdessen »viel Verantwortung, viel Stress«, seufzt Julia. Neben der Arbeit beschäftigt sie sich mit Pflanzenheilkunde. Als ihr Arbeitsvertrag nach zwei Jahren ausläuft, wagt sie es, ihn nicht zu verlängern.

Es ist Hochsommer in den Alpen. Julia beugt sich über eine bunte Wiese, zwischen saftigem Grün sprenkeln violette und gelbe Blüten. Mit einer Schere schneidet sie die gelben ab. Frauenmantel, später werden sie getrocknet und in Teemischungen verkauft. Julias Haut hat ein tiefes Braun angenommen, seit sie Stuttgart und den Büroalltag gegen das schweizerische Bergdorf Guarda eingetauscht hat. Es ist der Juni 2011, die Verpackungsentwicklerin ist nun Erntehelferin auf einer Kräuterfarm. Jäten, sammeln, stripfeln, trocknen, verpacken, elf Stunden am Tag, drei Monate lang. »Wer hat nur die Arbeit in geschlossenen Räumen erfunden?«, fragt sie in einer E-Mail an ihre Freunde, belustigt über ihre Freude an so viel Natur. »Mittlerweile jeden zweiten Tag wild sammeln – soo schön«, notiert das einstige Stadtkind und kündigt an, von nun an nur noch selten über das Internet kommunizieren zu wollen. Einfacher soll der Kontakt werden, wie das Leben im kleinen Kosmos von Guarda. Dinge passierten hier oben auf 1650 Metern direkter, beobachtet die Gastarbei- terin, »viel leichter für den Kopf zu begreifen«. Anstelle von SMS-Orgien und E-Mail-Fluten knüpft sie hier die Kontakte persönlich. »Man begegnet einander ja ständig im Ort.« Verspürt sie das Bedürfnis, mit Familie und Freunde zu sprechen, kauft sich Julia ab und an eine Telefonkarte. Und so steht sie da, mitten auf dem nächtlichen Marktplatz, in einer hell erleuchteten Telefonzelle, umrahmt von historischen Engadinerhäusern und den neugierigen Blicken ihrer Gemeinde. Ohnehin wirken alle viel selbstbestimmter. Julia glaubt, das läge an der Nähe, die die Menschen zur Natur pflegen, an der vielen frischen Luft. »Dieses bäuerliche Leben ist bestimmt nicht einfacher, aber vielleicht mehr der menschlichen Natur entsprechend.« Ihr Beweis: »Diese blauen Augen. Alte Bauern, so kräftige Menschen und dann strahlt aus ihnen dieser Blick«, beschreibt sie die Menschen, die sie mitten in den Bergen traf – kein Vergleich zu den gebückten, grauen Rentnern aus der Stadt. Sie, die als Kind nicht mal im Kleingarten ihrer Mutter helfen wollte, beginnt, die Kräuter als »kleine Wunderwerke« zu bezeichnen, und staunt sogleich, welch abgedroschenen Phrasen die einzigen sind, die ihre Eindrücke zu beschreiben vermögen. »Es ist so faszinierend, wie unterschiedlich so kleine Pflanzen auf Sonne oder Regen reagieren können.«

»Wer hat nur die Arbeit in geschlossenen Räumen erfunden?«

Sie interessiert sich für ihre Wirkung: »Verblüffend, was man schon mit Kamille und Brennessel machen kann.« Selbst an ihren freien Tagen wandert sie mit einer Freundin durch die Berge und sucht nach neuen Kräutern.

Mehr als ein halbes Jahr liegt dieses Abenteuer zurück, doch noch immer sprudeln aus Julia die Geschichten, als hätte sie sie erst gestern erlebt. Wie sie stundenlang mit ihren Kolleginnen Pflanzen verarbeitete, mal die eigenen oder fremden Probleme besprechend, mal in Gedanken versunken. Wie sie drei Tage brauchte, um eine Wiese in ein bestellbares Beet zu verwandeln, und noch mehr Zeit, um ihren Muskelkater zu überwinden. Wie sie die Einfachheit des Alltags genoss und sich dann doch nach geistiger Herausforderung sehnte.

Ihre Geschichte ist keine über eine Aussteigerin, die das Patentrezept erfunden und ihr altes Ich hinter sich gelassen hat. Julias Geschichte spielt nach wie vor mitten in der Großstadt, bald vielleicht sogar wieder mitten in einem Unternehmen – ab Mai hat sie eventuell eine neue Anstellung. Aber sie erzählt von einer Frau, die herausgefunden hat, was ihr wichtig ist. »Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich beide Berufe ausüben, vier Tage als Verpackungsentwicklerin, den fünften dann mit meinen Kräutern«, erzählt Julia. Bewusst pflegt sie ihre Bedürfnisse: »Ich versuche nun öfter Nein zu sagen«, sagt sie mit Stolz, dafür brauche sie aber keine winzige Bergwelt. Eine Heilpraktiker-Ausbildung will sie machen, sich einen eigenen Garten anlegen und noch mehr über die Heilkraft von Pflanzen lernen. Und dann sucht sie sich ihr Leben aus – ihr Kräutertee erinnert sie jeden Morgen daran.

MAKE YOUR OWN RINGELBLUMENSALBE
Du brauchst: 10 – 15 g Ringelblumenblüten (getrocknet oder frisch) 100 ml Olivenöl 10 g Bienenwachs

Eine handvoll frische oder 10 – 15 g getrocknete Ringelblumenblüten kleinhacken und in etwa 100 ml Olivenöl über dem warmen Wasserbad (max. 60 – 70°) ausziehen lassen. Das Öl-Kräutergemisch über Nacht stehen lassen, damit sich weitere Stoffe der Ringelblume lösen können. Am Morgen nochmals erwärmen und 10 Gramm Bienenwachs hinzufügen und im Öl vollständig auflösen. Noch flüssig in Behälter (z.B. Marmeladengläser) füllen und erst verschliessen, wenn die Salbe ausgehärtet ist, damit sich kein Kondenswasser bildet. Alle Zutaten sind in Bioläden oder Online-Shops erhältlich.

AUCH FERNWEH?

BERGWALDPROJEKT
Einwöchige ökologische Arbeitseinsätze im Wald, von den nordfriesischen Inseln bis in die Alpen. Teilnahme kostenlos. www.bergwaldprojekt.de

WORKCAMPS
Internationales Begegnungsprogramm für Jugendliche weltweit, mehrwöchige Arbeits- aufenthalte, beispielsweise als Restaurateur in Spanien oder Englischlehrerin in Kenia. www.workcamps.org

WWOOF – WORLDWIDE OPPORTUNITIES ON ORGANIC FARMS
Freiwilligenaufenthalte auf ökologischen Bauernhöfen weltweit, von Island bis Uganda, von Tierzucht bis Gartenbau. Arbeit gegen Kost, Logis und Lebenserfahrung. www.wwoof.org

ALPPERSONAL
Stellenportal für Alppersonal in der Schweiz, auch einige Angebote für ungeübte Aushilfen. www.zalp.ch

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