Mads kennt Frank Moeller eigentlich nur vom Hörensagen. Er hat seine Großmutter und Urgroßmutter
in den 30er Jahren verlassen und war 54 Jahre lang weg, bis er vor 20 Jahren zurückkam. Dazwischen
liegen der Krieg, seine Aufgabe als Friedenskämpfer gegen Hitler sowie zwei Frauen und vier Kinder. Frank Moeller ist Mads Urgroßvater. Er wohnt gerade einmal zehn Minuten von ihm entfernt und außer einer Schulaufgabe hatten die beiden bisher nichts miteinander zu tun. Bis heute.
VON_ Mads Holm & Evi Lemberger
Warum bist Du damals weggegangen?
Ich ging damals nicht, sondern wurde eher gegangen. 1934 arbeitete ich als Zimmermann bei einer Firma in Kopenhagen. Damals verliebte ich mich in Rosa, die Tochter meines Chefs. Wir trafen uns drei Jahre lang, auch als ich schon längst nicht mehr bei ihrem Vater arbeitete und beim Militär war. Dann wurde sie schwanger. Wir wollten heiraten, ein eigenes Geschäft aufmachen. Meine Eltern waren begeistert, aber ihr Vater war dagegen. Ich wollte um ihre Hand anhalten, sie mitnehmen und für sie sorgen. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern: Meine Eltern und ich fuhren mit unserem Auto zu ihrem Haus. Wir hatten eine wunderschöne Decke für sie auf dem Rücksitz. Ihr Vater sagte nein. Meine Eltern sprachen mit ihm. Er stimmte immer noch nicht zu. Wir mussten gehen – einem Vater widerspricht man nicht.

Wie erklärst Du Dir seinen Missmut?
Ich weiß es nicht. Ich vermute, ihre Eltern ahnten von der Beziehung, doch erst als sie schwanger wurde, wussten sie offiziell Bescheid. Er war vermutlich des Standes wegen dagegen. Er war ein Zimmermann. Mein Vater arbeitete für die christliche Zeitung und war Mitglied des Tempelritter-Ordens. Das passte denen nicht, denke ich. Der Vater war auch ein Tyrann. Aber machen konnte man nichts.

War das der letzte Tag, an dem Ihr Euch gesehen habt?
Nein. Nach diesem Tag besuchte sie mich in der Kaserne. Wir versuchten, unsere Beziehung aufrechtzuerhalten. Wir weinten und suchten nach Lösungen. Aber die gab es nicht. Und irgendwann brach die Beziehung ab. Ich hörte nichts mehr von ihr. Das war Ende 1936. Am 3. Februar 1937 kam unser Kind Hanne zur Welt, doch ich durfte das Kind nicht sehen. Ich konnte sie zuerst auch nicht ausfindig machen, da Hanne in einem Krankenhaus geboren wurde, in dem Geburten anonym abliefen. Das war so damals. Das Einzige, was ich durfte, war, für das Kind bezahlen.
Und Du wolltest nicht darum kämpfen, sie zu sehen?
Was sollte ich tun? Ich habe versucht, sie zu sehen, aber Rosas Vater verbot es mir – sogar gesetzlich. Ich kann mich noch an einen Tag erinnern. Das war schon viel später. Ich erfuhr zufällig, welchen Kindergarten Hanne besuchte. Ich wusste nicht, wie sie aussah, trotzdem versuchte ich, einfach einen Blick auf sie erhaschen. Ich war auf meinem Fahrrad und musste mich ducken, um durch den Zaun sehen zu können. Ich sprach mit den Lehrern, wollte herausfinden, wer sie war. Doch sie holten die Polizei.

So nah und doch so weit weg?
Ja. Ich lebte in derselben Stadt und war doch meilenweit entfernt. Es tat mir unendlich weh. Rosa war doch meine erste Liebe und Hanne mein erstes Kind, entstanden aus Liebe. Das ist eine Tragödie.
Bist Du darüber hinweggekommen?
Darüber wirklich hinweggekommen bin ich nie. Vier Monate nach Hannes Geburt kam meine zukünftige Frau Grete in mein Leben und sie hat mir geholfen. Ich lernte sie während meiner Zeit in der Armee kennen. Das erste Mal sah ich sie auf einem Tanzabend. Wir gingen aus, bis wir schließlich 1941 heirateten. Wir hatten drei Kinder. Insgesamt waren wir 60 Jahre zusammen, bis sie 1998 starb. Grete gab mir neue Lebensperspektiven, einen Sinn. Liebe verbindet so stark, sie kann etwas Neues erschaffen.

Wie ging es währenddessen weiter?
Ich blieb Soldat, und als der Krieg anfing und wir von Deutschland übernommen wurden, war ich in Herning stationiert. Als Dänemark übernommen wurde, arbeitete ich für die Friedenskämpfer. Das war eine damals inoffizielle Organisation, die gegen die Nazis kämpfte. Wir waren im Untergrund tätig und machten Dinge wie Zuggleise zerstören, um den Nazis den Weg zu erschweren. Manchmal mussten wir fliehen.
Was hast Du im Krieg gelernt?
Ich kann mich noch an eine Sache erinnern. Mein Oberst sagte mal zu mir und den anderen Soldaten: Ihr habt vielleicht einen anderen Hintergrund als eure Vorgesetzten, aber erinnert euch an eines – respektiert alle Menschen gleichermaßen, egal woher sie kommen. Das war das Letzte, was er uns lehren konnte, bevor wir in den Krieg zogen und es versauten. Nach dem Krieg war ich mit meiner Frau für fünf Jahre in Næstved und arbeitete dort noch beim Militär. Dann kehrte ich zurück nach Kopenhagen. Zurückzukehren war ein unglaubliches Gefühl. Ich zog mit meiner Familie nach Friedricksberg. In die Wohnung unter meinen Eltern. Das war ein wahnsinnig schönes Gefühl. Einfach wieder nach Hause zu kommen.

Was passierte danach?
Nach dem Krieg habe ich in der Kasernenpolizei gearbeitet. Das war okay so, ich wollte nicht mehr weg. Gleichzeitig trat ich in dem ‘Orden of the Odd Fellows’ ein. Das war eine Bruderschaft, so wie die Freimaurer. Mein Bruder war schon dabei und der Orden eine Tradition bei uns in der Familie. Er ist sehr wichtig für mich und hat Freundschaft, Liebe und Wahrheit als Prinzipien.
Und Hanne – hatte sie noch Platz in Deinem Leben?
Ja, sie war immer in meinem Herzen, aber was sollte ich machen? Ich hätte sie zu gern kontaktiert. Zuerst durfte ich nicht und dann wusste ich nicht, ob es richtig war. Sie hatte ihre eigene Familie. Ihr Vater hatte sie adoptiert – da dachte ich, es würde nur stören. Ich sah sie in der Zeit trotzdem zweimal. Sie war einmal in einem Magazin, da war sie ein Teenager. Sie war ein Model und Lommer Mädchen – eines dieser wunderschönen Mädchen, die im Theater das Publikum unterhalten. Ein Freund erzählte mir davon. Das nächste Mal, als ich sie sehen wollte, war auf der Beerdigung von Rosa. Sie starb, als Hanne 19 Jahre alt war. Grete erzählte mir davon. Ich versteckte mich bei der Beerdigung, ich hatte zu viel Angst vor der Familie, denn die hassten mich ja. Ich konnte auch Hanne nicht sehen.

Wann erfuhr Hanne von Deiner Existenz?
Hanne erzählte mir, dass sie erst nach dem Tod ihres Vaters von mir erfuhr. Er erkrankte an Krebs und sie kümmerte sich um ihn in den letzten Jahren. Bis er starb. Das war Anfang 1991. Als es um das Erbe ging, sagte man Hanne, sie würde nichts bekommen. Ihr Vater sei nicht ihr richtiger Vater. Dann fing sie an, nach mir zu suchen. Sie fand mich am Ende auch und schrieb mir einen Brief. Sie schrieb darin, dass sie vermutete, dass ich derjenige sei, den sie schon seit einiger Zeit suchte. Sie sagte, sie vermute, dass ich eine Beziehung mit einer Rosa gehabt hätte und dass sie mein Kind sei. Ich sollte mich melden, falls diese Vermutung richtig wäre.
SIE WAR EIN TEIL, DEN ICH IMMER VERMISSTE HABE. UND JETZT WAR SIE DA UND DER TEIL WAR GEFÜLLT.
Zuerst fragte ich mich: Was machst du jetzt, Frank? So viele Gedanken gingen durch meinen Kopf. Dann beschloss ich, sie zu sehen. Ich brachte Blumen mit. Ja, das weiß ich noch. Ich klingelte an ihrer Tür. Sie hatte meinen Urenkel auf den Arm, dich. Wir umarmten uns. Es war ein unglaubliches Gefühl. Unbeschreiblich. Wir redeten über alles.
Wie war es, sie als alte Frau zu sehen?
Über so etwas mache ich mir keine Gedanken. Sie ist eine wunderschöne Frau. Sie ist meine Tochter. Sie war ein Teil, den ich immer vermisste habe. Und jetzt war sie da und der Teil war gefüllt.
Hat sich nach diesem Treffen viel in Deinem Leben geändert?
Ja. Plötzlich war meine Tochter in meinem Leben. Ich besuchte sie oft nach den Treffen in meinem Club. Das war schön. Aber ich machte mir auch selber Probleme. Ich erzählte meiner Frau davon nichts. Erst nach sechs Monaten habe ich ihr davon erzählt. Sie war sehr sauer. Ich war so überfordert von meinen eigenen Gefühlen. Es traf mich auf sehr persönliche Weise. Ich glaube, ich wollte es einfach für mich behalten – es sollte unsere Sache sein.

Wie ist die Beziehung seither zu Hanne?
Am Anfang war es großartig. Das war wunderschön. Sie fuhr zusammen mit meiner Schwester, deren Mann und mir in dem Urlaub. Hanne und ich schliefen zusammen in einem Zimmer – wie in einer richtigen Vater-und-Tochterbeziehung. Ich kaufte ein Kleid für sie. Es war blau. Nach dem Urlaub besuchte ich sie oft. Sie kam auch mit zu meinen allwöchentlichen Clubtreffen. Das war großartig. Aber es machte auch viele Sachen komplizierter. Hanne und meiner Frau Grete hatten Probleme mit der Situation. Auch zwischen meinen Töchtern, Hanne und mir gab es Probleme. Unglücklicherweise sehe ich sie leider nicht mehr und es für jeden traurig, dass es nicht anders sein kann.
Und heute?
Es geht mir gut. Anna ist meine neue Partnerin. Ich habe sie 2003, fünf Jahre nach dem Tod meiner Ehefrau, kennengelernt. Sie ist wunderbar und macht mich wieder zu einem Mann, gibt mir Sinn zu leben. Wir gehen zweimal im Monat tanzen, waren dieses Jahr im Tivoli schon an die zehn Mal.

Was ist Dein Zuhause?
Zuhause ist für mich meine Wohnung. Ich bin in diese Wohnung 1993 gezogen, als es meiner Frau schlechter ging. Wir mussten von einer 140m2-Wohnung in eine 70m2 umziehen. Die Dinge, die wir mitgenommen haben, sind also sehr ausgesucht. Seit dem Einzug bis jetzt hat sich nichts verändert. Ich unternehme viel, gehe tanzen oder zu Konzerten mit Anna, bin im Club. Aber am Abend freue ich mich immer wieder darauf, nach Hause zu kommen, in meinem Sessel zu sitzen und über den Tag nachzudenken Das ist für mich Zuhause.

Warum ist Weggehen wichtig?
Ich denke, Weggehen ist manchmal wichtig, da man in manchen Situationen einfach nichts machen kann. Dann muss man einfach sich bewusst sein, dass es genug ist. Und dann muss man gehen.
Warum ist das Wiederkommen wichtig?
Manchmal muss man die Zeit arbeiten lassen. Wenn sie es so will, dann macht das Nachhausekommen auch Sinn.
Bereust Du etwas?
Ich habe ein gutes und langes Leben. Es war und ist wundervoll und ich möchte nichts davon missen. Bei Rosa und Hanne konnte ich nichts machen – also kann ich auch nichts bereuen. Das Einzige, was ich bereue, ist, dass ich Grete nicht früher von Hanne erzählt habe. Das war falsch und hat viel zu viele Probleme verursacht.

Du bist 97 und top fit.
Ich bin sehr diszipliniert. Ich mache noch jeden Tag Sport: eine Stunde Rudern, Gewichte heben und Fahrradfahren. Das ist Pflicht. Außerdem glaube ich an meine häufigen Blutspenden, 112-mal bisher. Jedes Mal einen halben Liter Blut. Das ist schon was.
No Comments