EIN BILD, DAS ICH NICHT VERGESSE

mitfahrgelegenheit

VON_Claudia Pyrrhus.

550 km, durchschnittlich 5 Stunden Autofahrt und eine anschließend halbstündige Zugfahrt sind nötig, um in meine kleine Heimatstadt im Osten Deutschlands zu gelangen. Eine Stadt, in der ich mehr als 20 Jahre lang gelebt, geliebt, gelacht und geweint habe. Ich frage mich, wie ich das Pendeln früher ein bis zweimal im Monat geschafft habe. Es war ein Spagat – 1 Jahr lang zwischen da und dort, Vergangenheit und Zukunft, Klammern und Loslassen, Weinen und Lachen. Ich sitze beengt in einem Wagen, dessen Fahrer mich für 25 Euro mitnimmt. Eine sogenannte Mitfahrgelegenheit. Diesmal zusammen mit einer androgynen Architektin, einem jungen rebellierenden Auszubildenden und einem »der es geschafft hat im Job«-Typ. Die Gurte klicken, die Fahrt durch Mittelerde hin zu Sodom und Gomorrha beginnt. Ich ahne bereits, was als Nächstes kommt. Und tatsächlich: Auch dieses Mal wird jeder im Auto ausgefragt, wer Ossi und wer Verräter ist. Zügig und ohne Umschweife wird abgeklärt, auf welcher Seite man steht. Die Spielregeln sind denkbar einfach: Es gilt, kurze, klare Fragen zu stellen, die Antwort erfolgt bitte in maximal zwei Sätzen. Diese erste Hürde auf dem Weg zu unterhaltsamen fünf Stunden ist für mich meistens schon der Genickbruch. Ich scheitere zum einen an den zwei Sätzen, und zum anderen genau an dem Punkt, an dem klar wird: Ich bin Verräter. Dort geboren und aufgewachsen, aber »ich bin nur zu Besuch da« – alle anderen im Auto fahren wirklich nach Hause. Es ist oft dieselbe Reaktion, die ich bisher erlebt habe.

KURZE STILLE, REGUNGSLOSE GESICHTER, STARRER BLICK UND DANN DAS FREUNDLICHE, ABER DISTANZIERTE LÄCHELN.

Damit sind die Fronten geklärt – gute Nacht. Also schlafe ich die meiste Zeit ziemlich verkeilt und unbequem mit dem Kopf am Fenster, der wahlweise mal nach vorn, mal nach hinten abknickt. Während die anderen eine Gemeinsamkeit verbindet: Sie freuen sich inbrünstig auf ihr Zuhause. Das Zuhause, das sie meist aus Geldnot vor zwei, sieben oder zehn Jahren verlassen mussten, um woanders zu arbeiten und Geld zu verdienen. Das geliebte Zuhause ist es geblieben, obwohl sie woanders leben. Ich musste auch gehen, aber nicht aus der Geldnot heraus.

ICH MUSSTE GEHEN, WEIL ICH DORT NICHT GLÜCKLICH WAR. NUR WILL DAS HIER KEINER HÖREN.

In der wenigen Zeit, in der ich wach bin und die Bäume, Felder, Wolken und unzähligen Autos an uns vorbeiziehen sehe, merke ich, wie die Vorfreude meiner Mitfahrer unaufhörlich wächst und an ihren Beinen hoch und runter krabbelt. Ich selbst fühle nichts, was mich aus der Ruhe bringt. Sie erzählen von damals, wertvolle Erinnerungen, die ihnen im Kopf geblieben sind und bei denen sie nirgends sonst so viel Verbundenheit empfunden haben – wie genau zu dem Ort, zu dieser Zeit und zu den Menschen, bei denen ich das Gefühl hatte, gehen zu müssen.
Es ist klar zu sehen, dass in ihren Erzählungen zwischen den Zeilen der Hinweis liegt, dass ihnen genau diese Verbindung heute fehlt und sich die fühlbar tiefe Sehnsucht in all der Freude ausdrückt, möglichst rasch an diesen Ort samt Kind und Kegel zurückzukehren. Ihr Zuhause. Diese Erkenntnis trifft mich trotz aller Vorbereitung jedes Mal wie ein Schlag ins Gesicht und verursacht ein flaues Gefühl in der Magengegend. Mir wird plötzlich schlecht bei dem Gedanken an eine Rückkehr.

DAS KOMMT FÜR MICH NICHT IN FRAGE, MEIN HERZ IST DORT NICHT DAHEIM.

Aber nun nähert sich die Autobahnausfahrt und ich verdränge alles ganz schnell wieder. Auf dem Weg durch die Stadt fällt mir auf, wie schön sie doch ist. Viel schöner, als ich es in Erinnerung hatte. Jetzt hatte ich ja auch den nötigen Abstand. Als wir am Hauptbahnhof ankommen, bezahle ich schnell, setze meinen Rucksack auf und konzentriere mich auf meine Weiterreise mit dem Zug. Fahrkartenautomat, Ziel eingeben, bezahlen, Gleis suchen, Treppe hoch, noch 15 Minuten, bis mein Zug kommt. Ich hatte gehofft, das ginge schneller.

Denn nun holt mich das flaue Gefühl im Magen wieder ein und es wird stärker mit der steigenden Gewissheit, dass ich dieses Mal allein hier stehe. Keiner holt mich vom Zug ab, außer die Erinnerungen an das, was mal war. Sie nehmen mich mit an einen entlegenen Ort in meinem Kopf, ganz hinten in die geistige Abstellkammer, dort, wo all die Geschichten liegen. Nur 17 Minuten vom Bahnhof entfernt liegt die Wohnung, in der ich hier zuletzt gelebt habe, mitten drin im bunten, alternativen und einmaligen Neustadt-Viertel, das ich bis heute liebe. Sonntags einkaufen im Lidl, der immer offen hat, rumhängen auf der Straße, sitzend auf der Mauer oder auf der Treppe, und dabei jeden treffen, den ich kenne – wenn ich will, die ganze Nacht, denn für genügend Unterhaltung hat die Stadt schon immer gesorgt. Der kleine und bezaubernde, aber versteckte Wald gleich hinter dem Park, in dem alle mit ihren Hunden Gassi gehen, und meine heiß geliebte Suppenbar.

WARUM BIN ICH HIER FORTGEGANGEN? ICH HATTE DOCH GUTE GRÜNDE. ODER WAREN DAS NUR AUSREDEN, UM DAVONZULAUFEN?

An diese Frage schließt sich eine absolute Totenstille in meinem Kopf an, bis mir einfällt, was mir eine Freundin sagte: Der Mensch neigt dazu, das zu sehen, was er sehen will, und nicht das, was alles möglich ist, wenn man den Blickwinkel ändert und den Tunnelblick vergisst. »Quuiiiietscchhhhhhh« … als der Zug einfährt, werde ich durch das ohrenbetäubende Geräusch brutal aus meinen Gedanken gerissen und die geistige Abstellkammer schließt sich schlagartig. Das nicht enden wollende schrille Geräusch der Zugräder auf den alten Gleisen zerreißt fast mein Trommelfell und sorgt für den gequälten Gesichtsausdruck einer überfahrenen Katze. Die Türen öffnen sich und ich suche mir den nächstbesten Sitzplatz direkt am Fenster. Ich hänge noch ein wenig meinen Gedanken hinterher, werde aber abgelenkt von meiner Neugier herauszufinden, was sich entlang der Zugstrecke alles verändert hat. Jedes Mal habe ich das Gefühl, dass wieder ein Stück mehr aus meiner Erinnerung weggerissen, neu angestrichen oder umgebaut wurde. Entweder dem Erdboden gleichgemacht oder ersetzt durch etwas, das man »modern«, »neu« oder »zeitgemäß« nennt.

DER ORT, AN DEM ICH AUFGEWACHSEN BIN, IST KEINE BESONDERS SCHÖNER ORT. NEIN, DAS IST ER WAHRLICH NICHT.

Vielmehr habe ich ihn als eher festgefahrene Kleinstadt in Erinnerung, in der bedauerlicherweise die NPD die Oberhand gewann. Die letzten Reste der Stadtmauer dienten dabei für einige Bürger auch als Grenze für ihren geistigen Horizont. Mir ist das zu wenig, deshalb bin ich gegangen. Wie so viele. Und wie bei jedem Besuch frage ich mich auch heute, ob vielleicht ein Umdenken stattgefunden hat. Auch hier sieht heute alles so viel freundlicher aus. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau und es weht sogar ein laues Lüftchen. Rucksack auf, Beutel in die Hand, Kopfhörer auf, Musik an und ich trete die letzten Meter bis zu meinen Elternhaus an. Zufrieden und gutgelaunt schlendere ich zusammen mit all den anderen Menschen aus dem Bahnhofsgelände raus.

Vor mir ein etwa 20-jähriger, unauffälliger Sonnenbrillenträger. Ich beobachte ihn eine Weile, während ich meinen Weg fortsetze, und fange an, mich wohlzufühlen in diesem einstigen Schrecken, der plötzlich nicht mehr so bedrohlich aussieht. An der nächsten Kreuzung schaltet die Fußgängerampel gerade auf rot und wir halten an. Ich betrachte den Sonnenbrillenträger näher, er sieht zufrieden aus, stelle ich fest. Vielleicht hat sich ja doch alles geändert. Genau und in diesem Moment sieht er offenbar zwei seiner Freunde auf der anderen Straßenseite und hebt den Arm, gestreckt mit flacher Hand zum »Deutschen Gruß«, um sie zu begrüßen. Alle drei lachen herzlich, während ich völlig fassungslos dahinterstehe und aus meinen Kopfhörern Mediengruppe Telekommander schreien »Mein Herz ist schwarz wie deine Coca Cola.« Manche Dinge ändern sich halt nie.

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