VON _ LISA YVO HEIMGARTNER
?Junge, noch unbekannte Schriftsteller werden nur selten gehört. Doch gibt man ihnen eine Stimme, kommt dabei oft etwas Neues, Überraschendes und Fabelhaftes heraus. So auch bei Lisa Yvo Heimgartner. Sie lebt in Wien, hat Respekt vor Büchern und verbringt mehr Zeit damit, sich zu sorgen als zu schreiben. Wir sind gespannt, wie lange noch, liebe Lisa. Denn wir haben Respekt vor ihr und ihrem Talent.
Er dachte gar nicht daran, von wo er diese Karte schicken wollte. An welcher Stelle er sein wollte, spielte zu diesem Zeitpunkt eine unwichtige Rolle. Zeitpunkte an sich, die waren für ihn nicht essenziell, solange er hier blieb. Er kannte den Ort nicht, aber wusste genau, was er schreiben wollte. Die Worte:
ICH BIN JETZT WEG, LIEBE GRÜSSE.
Großbuchstaben, »Ich bin jetzt weg«, »liebe Grüße« kleiner und darunter. Mehr gab es nicht zu schreiben, das wusste er. Er hatte keine Pläne, nur den einen großen vielleicht, der vom Wegsein. Er wollte nicht in die Wildnis, nicht nach Amerika, er mochte keine giftigen Tiere, war aber weniger wählerisch, was die Stromversorgung anbelangte. Hygiene, Ausrufezeichen. Die Idee einer Einsamkeit, aber nicht die, die am einfachsten war, nicht die in seiner Wohnung in Wien. Er las Bücher über Auswanderer und Abenteurer, verschmähte aber Jack London und Mark Twain in deren ganzen Existenz, aus Absicht. Würde man irgendwann einmal seine Leiche finden, wie die von Chris McCandless damals in Alaska, fände man unterstrichen in einem seiner Bücher von Bruce Chatwin den Satz: ‚Der Mensch, der ruhig in einem verdunkelten Zimmer sitzt, hat die besten Aussichten, von Halluzinationen und Selbstbeobachtung gequält zu werden und dem Wahnsinn heimzufallen.‘ Amerikanische Hirnspezialisten haben laut Chatwin auch herausgefunden, dass eine monotone Umgebung und mühselige, regelmäßige Aktivitäten zu Verhaltensweisen führen, die Müdigkeit, nervöse Verstimmung, Apathie, Ekel vor sich selbst sowie gewalttätige Reaktionen hervorrufen. »Ekel vor sich selbst« hatte er doppelt unterstrichen.
Grundgütiger, dachte er sich mehrmals pro Tag, und konnte sich kaum mehr auf etwas anderes konzentrieren. Nachdem er wusste, dass nie der richtige Zeitpunkt kommen würde, diese Stadt zu verlassen, wollte er auch nicht länger darauf warten. In seinem Kopf war es ja bereits relativ klar, ganz theoretisch war er bereits weg, eine abgemachte Sache, super Plan. Er hatte sich aus Zuversicht seit 19 Monaten schon keine Jahreskarte mehr besorgt, kaufte monatlich, vorausschauend und clever, wie er fand. So konnte er ohne Geldverlust die Stadt verlassen, ohne Reue, die letzten Monate eventuell nicht ausgefahren zu sein. Nichts konnte ihn halten, keine Beziehung und schon gar keine Jahreskarte. Gebundensein sei der erste Nagel am Kreuz, passe man bei diesen sozialen Spielchen eine Sekunde nicht auf, hänge man schneller am Kreuz, als man hämmern könne.
Was er an Wien am wenigsten mochte, waren die Menschen, die Touristen im ersten Bezirk, die eingeschränkten Öffnungszeiten im Café Jelinek und den Monat Februar. Das Spazieren durch die innere Stadt hingegen, Flanieren mochte er nicht dazu sagen, gab ihm das wohlige Gefühl, selbst ein Tourist zu sein. Gerne sah er sich die Postkarten an den Souvenirständen genauer an, Sisi vor und in Schönbrunn, Kaffeegedeck, porträitiert im bekannten Sperl oder Bräunerhof, grimmige Fiakerkutscher vor Pferd, Stephansdom ganz oder Wien-Ansicht von oben. Gerne saß er auch im Wiener Kaffeehaus und wunderte sich über unwissende Konsumenten, die in der Regel Melange von großer Brauner nicht unterscheiden konnten. Er wunderte sich nur, es war kein Hass. Er hatte großen Respekt vor den angekündigten, gewalttätigen Reaktionen, da er wusste, wie sie entstehen, wollte er sich ganz behutsam, aber stark davon distanzieren.
BLOSS KEINEN HASS, VIELLEICHT KEINE LIEBE. ABER DOCH EIN WENIG ZUNEIGUNG FÜR DEN MENSCHEN GEGENÜBER.
Freundlichkeit, Höflichkeit, Stichwort Solidarität. Schlagwörter im Überlebenssystem »Mensch sein«. Die Hände bei sich behalten, den Kontakt aus sicherer Distanz zulassen, ohne zu schwanken, grüßen und beim Verabschieden die Sekunden der Intimität zwar gestatten, aber nicht überschreiten. In anderen Ländern möchten die Menschen nicht umarmt oder übereifrig angelächelt werden. Österreicher sind erschöpfend zufriedene Menschen, die es kennzeichnend gut meinen. Gut mit anderen, gut mit sich selbst. Das spielte aber gar keine Rolle mehr, er strich sich die Tage aus dem Kalender wie die Zeit, die früher war. Er sah nach vorne und hinaus aus seinem Land.
ER ERKANNTE DIE MÖGLICHKEIT FÜR DEN MOMENT UND WOLLTE SICH NICHT AUFHALTEN LASSEN, NICHT VON SICH SELBST, VON NIEMAND ANDEREM UND NICHT VON DER ZEIT.
Er trieb sich selbst zugrunde, so dass er nicht aufbrach, sondern ständig stehen blieb. Problemlösung in Bearbeitung, dachte er sich. Keiner, der ihn kannte, wusste davon. Er erzählte von den Wetterveränderungen und kannte die Prognosen, wusste die schnellsten Wege durch die Stadt und berichtete von Problemen, die die Welt bewegten. Selten sprach er von Essen oder Kunst. Überhaupt nie wollte er darüber sprechen, wie es ihm geht und warum. Das sei die reinste Zeitverschwendung und keinesfalls dienlich, sofern man es längerfristig betrachte. Man solle sich ausnahmslos auf einen Gemütszustand festlegen, gut oder schlecht, ganz egal. Änderte man einmal seine Meinung, habe man den feinen Salat, dann leite das sensible Gegenüber umgehend die Folgefragen ein. Warum? Was ist passiert? Das führe immer zu einer Katastrophe. Außerdem scheute er sich vor den Problemen anderer. Er konnte ja schlecht weghören, und außerdem war es ihm gar nicht ganz egal. Er wollte nur eben keine Bindung, dachte dabei sofort an klaustrophobische Zustände und war sich dessen sicher. Außerdem wollte er ja nicht für immer bleiben.
Damals machte er sich auch noch Sorgen um seine Wohnung, um die kleinen Pflanzen in ihren lichtleeren Ecken, den Postkasten und die alte Nachbarin mit dem Hüftschaden. Besonders um die Pflanzen, die Nachbarin war ihm eigentlich egal. Die Dame war schließlich schon vor ihm da, hatte einen Sohn und Geld genug für ein Standardabbonnement. Selbst diese Gedanken hielten ihn auf. Der Mensch muss in Bewegung bleiben. Denn Bewegung ist das beste Mittel gegen Melancholie, schrieb Robert Burton, der zu Lebzeiten hauptsächlich wenig erfolgreiche Dramen und unbedeutende Lyrik verfasste. Es gibt tatsächlich eine Spaziergangs-Wissenschaft, Gehen selbst ist eine Sportart, nicht zu verwechseln mit dem Laufen oder den Steigerungen wie Marsch oder Wandern. Er las sich aufmerksam jeden Artikel über berühmte Spaziergänger durch, Goethe und Schiller, nicht ihrer Texte wegen, mehr aus Verbundenheit. Die Sehnsucht, die ihm auf der Zunge lag, die ihm aber nicht einfallen mochte, nicht bei Caspar David Friedrichs »Wanderer über dem Nebelmeer« und auch nicht bei der Frage, wo er hin wolle. Das hatte alles nichts mit Freiheit zu tun, er romantisierte nicht die Einsamkeit, war nicht dunkel oder traurig, er wollte gehen und woanders sein. Nicht nirgends, nur eben an einem anderen Ort.
Die wirklichkeitsfernste Vorstellung auf der Welt ist die Utopie des entferntesten Ortes. Und daran dachte er häufig, hatte aber genug Verstand, um zu begreifen, dass das Konstrukt im Kopf der Realität nicht zu nahe kommen kann. Vernünftig wie er war, ordnete er diese Gedanken in ‚von Halluzinationen und Selbstbeobachtung gequält werden‘ ein. Er konnte sich nicht ausreichend konzentrieren. Und das lag doch zwangsläufig immer auch an seinem Standort – dort, wo man nicht sein möchte, kann man eben nicht sein. Nicht mit dem ganzen Kopf. Dann fehlt etwas.
Manchmal ließ er einfach seine Arme zu Hause, die Füße hatte er immer dabei. Kann man denn unterwegs zu Hause sein? Und wie findet man einen Ort, an dem man ständig in Bewegung bleiben kann? Er dachte an Schnecken, erkannte aber keine Parallelen zu sich selbst und seinem Leben. Er dachte an Heimat im herkömmlichen Sinne, an das Geburtsland, die Wiege, grübelte über Eigentumswohnungen und dachte an gebuchte Reisen inklusive Retourtickets. Eine abgemachte Sache, diese ganze Welt. Es besteht zwangsläufig immer ein Ausgangspunkt. Für jeden Spaziergang, jede Reise oder Flucht. Man konnte also tatsächlich nie nirgends sein, war ständig gebunden an seinen Ursprung. Und weg sein ist ein anderes Wort für nicht hier sein. Er verbrachte nach dieser Erkenntnis mehrere Tage ausschließlich in seiner Wohnung. Er überdachte die Idee seiner Karte, überdachte den Satz. Er würde die Worte vielleicht ändern und schreiben:
ICH BIN JETZT ZU HAUSE, LIEBE GRÜSSE.
Großbuchstaben, »Ich bin jetzt zu Hause«, »liebe Grüße« kleiner und darunter.
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