TEXT Blanda Wielandt _ ILLUSTRATION Lisa v. Radecke
Ich weiß noch nicht, was das Richtige für mich ist, hatte sie damals gesagt. Welche Straßen und Häuser zu mir passen, wo ich mich wohl fühlen würde. Und: Ich möchte nicht weg von dir. Er: So geht das nicht. Du darfst deinen Studiengang nicht der Stadt wegen auswählen. Und die Stadt nicht unseretwegen. Sie hatte zwar ernst gemeint, dass sie nicht fortwollte, aber er hatte Recht gehabt mit seinen Einwänden.

Sollte sie ausziehen? Was würde dann mit ihnen passieren? Die berüchtigte Routine, das Schreckgespenst der romantischen Zweisamkeit, würde dann zu etwas werden, an das beide sich vom ersten Tag der Trennung an zurücksehnen würden und plötzlich mit ganzer Kraft zu erkämpfen versuchten. Kochen. Tatort am Sonntag. Gemeinsam ins Bett und lesen. Lachen über den fremden Dialekt und über Mentalitäten, die ihnen verschroben vorkämen.
NICHTS WÜRDE HELFEN. ODER ALLES.
Ein vermeintlicher Neubeginn würde das Ende provozieren. Oder der Schlussstrich alte Gefühle wieder aufleben lassen. Die Kilometer zwischen ihnen wären eine Wohltat für die ausgezehrte und müde Beziehung. Mit leisem Schmerz im Herzen gingen beide jeden Abend ins Bett, mit ihren Gedanken näher beieinander, als ihre Körper es in den vergangenen Monaten gewesen waren. Sie würde sich abends über die Schulter streichen und sich vorstellen, es wären seine Hände, die sie spürt. Die Tage im Kalender anstreichen bis zum nächsten Wiedersehen. Den Tagen einen Stempel geben. Bestanden. Überstanden. Aufgestanden. Sich nahe stehen, ohne nebeneinander zu stehen. Skype gerne nutzen, sogar Fotos von sich selbst, nach dem Aufstehen oder an der Straßenbahnhaltestelle sitzend, mit dem Handy verschicken. Bevor er käme, würde sie sich zurechtmachen, manchmal trüge sie nachts neue Unterwäsche. Vielleicht sogar Strapse, das mag er. In alten T-Shirts oder Hemden schliefe sie nicht einmal mehr allein. Sie wäre aufgeregt, wenn er klingelte. Die Wohnung wäre sauber. Sie hätten jede gemeinsame Nacht Sex. Oder jeden gemeinsamen Morgen. Ein neues Parfum stünde auf der Kommode, der Duft des aktuellen Lebensabschnittes, das Gehirn würde ihn mit Sehnsucht verbinden, mit Vorfreude, mit intensiv geteilter Zeit. Sie würden sich schrecklich vermissen.
DER KUMMER, DER VOM HINTERKOPF AUS MIT SEINEN FEINEN FÄDEN SCHLINGEN UM IHRE BRUST ZÖGE, WÜCHSE ZU EINER STETIGEN UNZUFRIEDENHEIT HERAN.
Er würde nicht nur die neu gewonnene, allein verbrachte Zeit, die sie sich aufregend und spannend vorgestellt hatte, vergiften, sondern auch die geteilte. Streit, Vorwürfe, Tränen. Sähe man sich, wäre jede gemeinsame Stunde überschattet vom bevorstehenden Abschied, nach welchem sie sich im Stich gelassen fühlen würde, und er sich nicht verstanden oder undankbar behandelt. Sie würde lange Wochenenden fürchten, die sie allein verbringen sollte und wüsste nichts mit sich anzufangen. Die Vorfreude auf eine eigene Wohnung und selbst ausgesuchte Kochtöpfe würde sie nicht täuschen. Die Teppiche, gegen die er sich immer gesträubt hatte, die etwas teure, aber schicke Wanduhr, zu der sie ihn nie hatte überreden können. Sie besaßen ja eine. Vorhänge, die zur Bettwäsche passten, und ihre Lieblingsjoghurts im Kühlschrank. Viele Nudeln, keine einzige Kartoffel als Alibi. Ein Kräutergarten an der Wand in der Küche, wofür hier nie Platz gewesen war.

Sie würde sich eine Dauerkarte für das Hallenbad wenige Straßen weiter kaufen und schwimmen gehen, zwei-, dreimal die Woche, vielleicht würde sie sich auch zu irgendeiner anderen Sportart anmelden, Yoga, oder im Fitnessstudio. Sparpreis für Studenten: 17,95 Euro im Monat. Ihm würde eine Veränderung an ihrem Körper auffallen, die sich in Komplimenten niederschlüge und darin, dass er sie öfter, mit stillem Stolz, von der Seite mustern würde.
Vielleicht gefiele ihm die unbekannte Stadt nicht und ihre Wohnung ebenso wenig. Ihr Zuhause, das früher einmal er gewesen war und es eigentlich immer noch sein sollte. Der nächste Supermarkt läge ihm zu weit entfernt und die Luft in ihrem Zimmer fände er überheizt. Dabei weiß er doch, dass sie schnell friert.
Morgens würde er dann husten, sich beklagen über ein Kratzen in der Kehle und den nächsten Tag einen steifen Hals bekommen haben wegen des von ihm demonstrativ aufgerissenen Fensters. Sie ginge feiern. Tanzen. Mit offenen Haaren, wie schon lange nicht mehr oder sogar wie noch nie zuvor. Manchmal wäre er dabei, meistens nicht. Es wäre unvereinbar, sich jedes Wochenende zu sehen. Zu weit weg. Zu viel Fahrt. Das lohnt sich nicht. Man kann sich ausrechnen, was ein Besuch kostet. Von der Zeit und den Nerven abgesehen.
Wenn er da wäre, würde sie ihn anstrahlen und von Club zu Kneipe ziehen, von Bar zu Tanzfläche, im Sommer ärmellos, im Winter mit Fell in den Stiefeln. Er säße neben ihr und würde sich mit ihr unterhalten, denn wenn man sich nicht mehr so oft sieht, würde das Gespräch wieder wichtiger werden zwischen ihnen. Wörter gewinnen an Bedeutung, wenn sie einige Zeit im Inneren reifen können, bevor man sie dann unvermittelt und unüberlegt herausstößt. Dann haben sie an Verletzungspotenzial verloren, sind rund geschliffen, nicht mehr kantig und plump.Wenn er selbst keine Lust hätte zu tanzen, würde er sie aus einiger Entfernung beobachten. Bald würde er sagen: Lass uns zu dir gehen.
ODER WÄRE ES »NACH HAUSE«? WÄRE IHR DAS RECHT? IHR NEU ERRICHTETES LAND, IN DEM SIE ERST AUSPROBIEREN MUSSTE UND DANN AUCH WOLLTE, WIE ES WAR, ALLEIN ZU SEIN?
Würde sie sich in ihrer frisch gewonnenen Unabhängigkeit beschnitten fühlen? Fände sie es gut, wenn er ihre Schubladen umsortierte, sie auf nicht gespültes Geschirr aufmerksam machte oder ungefragt Socken und Boxershorts bei ihr deponierte? Sie würde vermutlich jedes Lebenszeichen, das er bei ihr hinterließ, genießen, weil sie es als ein Symbol von Zuversicht auffassen würde: Wir bleiben zusammen. Auch wenn du jetzt räumlich gesehen weit weg bist, wirst du mich trotzdem nicht so schnell los. Ein T-Shirt vom Wochenende im Bett verstecken und bis zum nächsten Treffen unter dem Kopfkissen aufbewahren, nachts griffbereit, mit einem Rest seines Geruchs. Seine CDs zwischen ihren, plötzlich würde wieder unterschieden zwischen »mein« und »dein«, herausgerissen aus einem gemeinsamen Haushalt, in dem vieles schon beiden gehörte, zumindest in der Praxis. Nie hatte sie ihn fragen müssen, ob sie sich einen Pullover ausleihen dürfe. Sich der eigenen Habseligkeiten bewusst sein und es nicht mehr als Selbstverständlichkeit anzusehen, dass Dinge geteilt werden.
VIELLEICHT TUT UNS DAS MAL GANZ GUT. IST JA NICHT FÜR IMMER.
Bilder, die sie herunternahm, hinterließen nicht einmal weiße Rechtecke an der Wand, so kurz haben sie erst dort gehangen. Umzugskartons wurden gepackt und schmückten die gemeinsame Wohnung mit dem Zwang, zumindest wahrzunehmen, was bald auf sie zukam.
Die letzten Tage sprechen sie nicht viel darüber, obwohl die Kartons hohe Stapel bilden und beim Gang durch die Wohnung umschifft werden müssen wie Eisberge. Ein paar sind umgefallen, etwas ist darin zerbrochen, aber sie hat nicht nachgesehen, beide haben es bewusst unkommentiert gelassen. Am Dienstagmorgen macht er ihr Brötchen für die Fahrt, beschmiert sie mit gewagten Kombinationen, an die sie sich selbst nie getraut hätte. Damit du an mich denkst. Edamer und Quittenmarmelade von Oma, Schafskäse und Bananenscheiben. Sie hatten es nicht geschafft, sich richtig zu verabschieden, sie wollte nicht weinen, sie wollte ihm nicht mit Tränen in Erinnerung bleiben, sondern tapfer und mutig. Er mag es grundsätzlich nicht, wenn sich solche Dinge in die Länge ziehen.

Als sie dann endlich losfährt, mit dem geliehenen Transporter, der sie ein bisschen nervös macht, weil er so breit ist, und weil sie sich nicht auskennt, dort, wo sie ankommen wird, hat sie ein gutes Gefühl, allein unterwegs zu sein.
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