HEREINSPAZIERT

ich bin doch kein tourist

Wer sein Glück in einer anderen Stadt sucht, hat viel zu gewinnen: neue Erfahrungen, neue Freundschaften, neue Eindrücke. Doch vor allem passiert eines: Die Relationen verschieben sich. In Amsterdam trafen wir auf Benni (28), der seine Heimat verlassen hat, um sie von außen besser in den Blick zu bekommen.

VON Jana Schwarz

Als Esslinger Zwiebel und Schwabe durch und durch hat es Benni im Januar 2012 von Stuttgart nach Amsterdam verschlagen. Für ein Jahr lebt er nun im zentralen und für seine Partys berüchtigten Wohnheim an der Weeperstraat und lernt nach und nach die Seele der Stadt und auch die seines Wohnheims kennen. Nebenbei absolviert er seinen Master in »Political Communication« und erlebt dabei die Internationalität und Liberalität einer Stadt, die so wohl auf der ganzen Welt einzigartig ist.

#1 DIE WOHNSITUATION

17 Leute aus elf verschiedenen Nationen leben hier im Wohnheim mit mir zusammen. Die Internationalität ist wirklich klasse, ich lerne ständig Neues über Länder, von denen ich vorher überhaupt keine Ahnung hatte. Über ihre Kultur, über ihre Geschichte und Politik. Im Prinzip ist es wie in einer Jugendherberge. Wenn du Spaß haben willst, musst du nur in die Küche gehen. Du findest immer jemanden zum Reden, zum Bierchen trinken oder Tischtennis spielen. Aber man kann auch einfach die Tür hinter sich zumachen, wenn man ungestört sein will.

EINE CHINESIN IST JEDE NACHT UM ZWEI UHR DUSCHEN GEGANGEN. ICH TRINKE DEN GANZEN TAG MILCH. DIE EIGENHEITEN UND MAROTTEN EINES JEDEN KOMMEN HIER NATÜRLICH SCHNELL ANS LICHT.

Durch die unterschiedlichen Tagesabläufe der Bewohner funktioniert das Zusammenleben mit genau zwei Duschen und zwei Toiletten wirklich erstaunlich gut. Notfalls muss man morgens eben erst einen Kaffee trinken und dann ins Bad statt andersherum.

Manche Dinge laufen auch hier scheiße. Jeden Sonntag schmeißen die Leute ihren Müll aus den oberen Stockwerken auf den Korridor. Sie wissen, dass montags die Putzkräfte kommen und alles wieder wegräumen. Die Weesperstraat ist berüchtigt. Wenn du tolerant bist und mit Dreck und Mäusen klarkommst, dann kannst du hier die beste Zeit deines Lebens haben.

#2 DAS BESONDERE AN AMSTERDAM

Definitiv das wechselhafte Wetter. Wenn es schön ist, kann es sein, dass es innerhalb von Minuten zuzieht und in Strömen regnet. Deswegen muss man seine Tage auch wirklich spontan planen. Den Amsterdamern ist das Wetter egal. Die schauen in den Kalender und ziehen sich dementsprechend an, als versuchten sie, mit ihren Kleidern das Wetter zu beeinflussen – und nicht andersherum.

»ES GIBT NICHTS SCHÖNERES, ALS NACHTS DIE KANÄLE UND BELEUCHTETEN BRÜCKEN ABZUFAHREN, VORBEI AN URALTEN GEBÄUDEN, UND DAS KOPFSTEINPFLASTER RÜTTELT AN DEINEM KLAPPRIGEN RAD.«

Besonders ist auch, dass die Stadt immer voll ist mit Touristen, egal zu welcher Jahreszeit. Die verliebten Pärchen sind völlig in Ordnung. Aber dann sind da auch noch die Kiffer, die den ganzen Tag in Coffeeshops rumhängen, und diejenigen, die für den Red Light District herkommen. Die gehen allen hier auf die Nerven, weil sie sich in der Regel einfach nur daneben benehmen und auf den Fahrradwegen herumtaumeln. Die besondere Atmosphäre der Stadt macht aber alles wieder wett.

#3 STUTTGART VS. AMSTERDAM

Stuttgart und Amsterdam sind von der Fläche und Einwohnerzahl her ähnlich groß, dennoch könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Stuttgart fehlt ganz klar das Weltoffene. So sehr ich meine Heimat auch liebe – die schwäbische Mentalität und das Kleinbürgerliche gingen mir schon immer auf die Nerven. Amsterdam ist ein kleiner Hafen der Liberalität und Offenherzigkeit. Das ist in den Niederlanden, sicherlich aber auch auf der ganzen Welt, einzigartig. Letzte Woche zum Beispiel war ich auf der Gay Pride und habe dort mit sieben Lesben die ganze Nacht gefeiert. Das ist hier ganz normal, in Stuttgart wirst du für so etwas schon mal komisch angeschaut.

Das Einzige, was ich in Amsterdam vermisse, ist richtig gute Musik. Da hat Stuttgart auf jeden Fall mehr zu bieten. In Amsterdam findest du nicht so leicht eine gute HipHop-Party. Entweder es wird Elektro gespielt oder es läuft Charts-Mucke. Beides nicht so meine Richtung. Dafür punktet Amsterdam definitiv wieder in Sachen Lebensqualität. Wo sonst kann man mit Kumpels in einer kleinen Nussschale durch die Kanäle schippern, um dann am Pier eines Biergartens auszusteigen und was zu trinken?

#4 FÜHLT DU DICH ZUHAUSE?

Klar – ich habe inzwischen einen festen Freundeskreis, kenne mich gut aus in der Stadt, und auch das Leben im Wohnheim ist gerade genau das Richtige für mich. Ich kann sagen, dass ich angekommen bin, wenn auch erst einmal nur auf Zeit.

AMSTERDAM IN ZAHLEN

780.559 Einwohner
183 Nationalitäten 600.000 Fahrräder
165 Kanäle

13.800.000 Tagesbesucher

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