Die Isländer sind wahre Meister der Improvisation, Multitalente und schräg-verrückte Lebenskünstler.
Es ist ein Alltag zwischen heißen Quellen und eisigen Schneestürmen, fernab auf einer Insel im Nordmeer, zwischen unzähligen Schafen und Pferden und inmitten einer kreativen Gesellschaft. Auch für viele deutsche Frauen ist Island ein Zuhause geworden. Tina Bauer hat selbst in Reykjavík gelebt und einige davon kennengelernt.
VON Tina Bauer
»Velkomin heim«, erklingt es durch die Lautsprecher im Flugzeug beim Anflug auf Keflavík, dem internationalen Flughafen von Island. Willkommen zu Hause! Es ist eine schöne Geste, mit der die Isländer sich zurück im Schoß der Großfamilie willkommen heißen. Schließlich leben gerade einmal 320.000 Einwohner auf der Insel nahe am nördlichen Polarkreis. Und das macht das Leben in Island anders und die Menschen besonders.
In dieser Mini-Gesellschaft muss jeder mehrere Aufgaben übernehmen – zugleich darf auch jeder machen, was er will. Die Isländer fragen nicht, ob ein Bauarbeiter schreiben kann. Er schreibt einfach – und die Isländer lesen sein Buch. Jährlich werden rund 1.600 neue Titel veröffentlicht und jedes Jahr 2,5 Millionen Bücher verkauft, durchschnittlich kauft jeder Isländer acht Bücher im Jahr. Die Überzeugung Joseph Beuys ́, jeder Mensch sei ein Künstler, wird in Island beherzt gelebt. So schreiben die Isländer nicht nur wie die Wilden, sie machen auch leidenschaftlich Musik. Die vielfältige Musikszene gilt schon lange nicht mehr nur als Geheimtipp – Björk, Sigur Rós und das Musikfestival Airwaves sind unter Musikfans weltweit bekannt.

Trotz ihres Erfolgs sind die Isländer recht unprätentiös – schließlich kennt hier auf der Insel ohnehin fast jeder jeden oder ist miteinander verwandt. Hierarchien sind den Islän- dern fremd: Chefarzt und Putzfrau essen am selben Tisch zu Mittag. Und im Hotpot, den beliebten heißen Pötten, ist sowieso jeder gleich. Island versprüht einen Zauber – nicht nur die atemberaubende Kulisse zwischen Vulkanen, heißen Quellen und den größten Gletschern Europas ist anziehend.
DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DER ISLÄNDER, DAS
LEBEN ZU NEHMEN, WIE ES KOMMT, ES ZU GENIESSEN, SOWEIT ES GEHT– TROTZ VULKANAUSBRÜCHEN UND BANKENCRASH – IST FASZINIEREND.
Vermutlich ist es diese Mischung von Abenteuer, Naturkräften, Kreativität und Lebensfreude, weshalb es auch so viele Deutsche auf die Insel zieht. Die deutschen Tugenden Pünktlichkeit und Genauigkeit gelten hier nicht, das Leben scheint entspannter. Rund 1.500 Deutsche leben derzeit in Island und haben sich ein neues Leben geschaffen. Das Erstaunliche daran: Fast zwei Drittel davon sind Frauen. Und sie fallen auf – im positiven Sinn!
Sie sind präsent in der isländischen Gesellschaft, beeinflussen die Kulturszene, arbeiten im Tourismus, führen Gästehäuser, sind handwerklich kreativ und packen auf Bauernhöfen an. Für mich sind sie Vorbilder – sie leben und arbeiten so, wie es für sie am besten ist. In Island haben sie ihren Platz dafür gefunden.

Eine von ihnen ist Myriam. Sie lebt mit ihrem isländischen Mann und Kindern im Tal Svarfaðardalur im Norden Islands und führt ein reizendes Gästehaus in einem umgebauten Stall. Es erscheint wie im Märchen – in Wirklichkeit jedoch war es ein langer, steiniger Weg dorthin. Myriam kam durch Zufall nach Island. 1996 war sie mit ihrem damaligen Freund via Schiff auf der Durchreise auf dem Weg nach Kanada. „Uns war das Geld ausgegangen, und wir sind einfach in Island hängenge- blieben“, erinnert sie sich. Sie arbeitete dann bei ihren heutigen Nachbarn auf der Hühnerfarm. Nach einem halben Jahr ging sie zurück nach Deutschland. »Doch der Bauer wusste, dass wir nicht mehr so richtig Lust hatten auf ein Zigeunerleben.« Bald schrieb er Myriam, dass er den Nachbarhof gekauft habe, aber nur an den Ländereien, nicht an den Häusern interessiert sei. »Noch während ich bei ihm gearbeitet hatte, war dies der erste Bauernhof, bei dem ich so ein Hofgefühl hatte, weil das Wohnhaus, die Garage und der Stall um einen kleinen Platz herum gebaut sind«, erinnert sich Myriam.
DIE ENTSCHEIDUNG WAR SCHNELL GEFÄLLT.
»ES WAR MIR ALLES VERTRAUT – ICH KAM NACH HAUSE.«
Während Myriam es also nur durch Zufall nach Island verschlagen hat, träumte Ruth schon als Kind von Island. »Abenteuer bei Vulkanausbrüchen und Erdbeben, das Leben mit den Islandpferden – ich war absolut fasziniert«, erinnert sich die 63-Jährige. Seit 30 Jahren lebt Ruth in Heimaey auf den Westmännerinseln, südlich vor der Hauptinsel Islands. »Vor allem die Natur und die Tiere geben mir Energie«, sagt Ruth. Während sie erzählt, nimmt sie ein kleines silbernes Fischchen in die Hand und hält es einem Vogel direkt vor den Schnabel. Der junge Papageientaucher schnappt sich den Happen und schlingt ihn hinunter – wachsam beäugt von der Hündin Æska. Mit mütterlicher Liebe füttert Ruth das Vogelbaby. Schließlich soll es kräftig genug werden, um später wieder in die Freiheit fliegen zu können. Mensch und Tier strahlen Ruhe, Einklang und Frieden aus. Zugleich sprüht die drahtige Frau mit der schwarzen Lockenmähne vor Energie: Sie greift ihren Rucksack und wir besteigen den erloschenen Vulkan Eldfell. Oben angekommen packt Ruth eine große runde Blechdose aus und verstaut sie zwischen den roten Steinen am Boden. Nach einer Weile öffnet sie die Box. Der Duft frisch gebackenen Brotes strömt in meine Nase. Der Berg ist im Innern noch heiß – und Ruths Vulkanbrot eine Touristenattraktion. Zudem ist Ruth im Laufe der Jahrzehnte zur Vogelmama der Insel geworden und päppelt verwaiste Papageientaucher und Dreizehenmöwen auf.

Das Leben in Island ist, besonders im Winter, jedoch alles andere als idyllisch – außer wenn die grünen Nordlichter tanzen. Gewöhnungsbedürftig sind die dunklen Wintertage, wenn es erst mittags um zwölf hell wird und um 16:00 Uhr schon wieder dämmert. Ebenso wie die teils eigenartigen Gewohnheiten der Isländer, beispielsweise Fischtran gegen Erkältung oder Winterdepression zu trinken. Und auch der Bankencrash von 2008 hat seine Spuren hinterlassen: Es gibt mehr Arbeitslose, viele angefangene Häuser stehen als Ruinen leer. Erst langsam berappelt sich die isländische Wirtschaft wieder. Doch deshalb das Land zu verlassen kommt für Ruth und Myriam nicht in Frage. Sie leben in Island und haben hier ein Zuhause gefunden. Velkomin heim!
TINA BAUER _ Auf der Suche nach anderen Lebensentwürfen hatte sich die Text- und Fotojournalistin vor vier Jahren in das Land ihrer Kindheitsträume aufgemacht. In Island hat Tina Bauer wunderbare und vor allem entspannte Menschen getroffen. In ihrem Fotobuch »Iceland – lovely home« porträtiert sie deutsche Frauen, die in Island leben. www.tibauna.de
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