PÄNG!HERO

WIR SCHÜTZEN NUR, WAS WIR LIEBEN

Vor 14 Jahren entdeckte Katharina Heyer zufällig eine der größten und artenreichsten Walpopulationen der Erde. Und das direkt vor unserer europäischen Haustür, an der spanischen Südküste. Für den Schutz und die Erhaltung der Tierwelt in der Straße von Gibraltar kehrte sie ihrem alten Leben als erfolgreiche Modedesignerin und ihrer Heimat Schweiz den Rücken. Jetzt steht sie vor ihrem bisher größten Abenteuer. In einem alten Schmugglerhaus will sie für aus Delfinarien befreite Meeressäuger ein Heim schaffen, samt Krankenstation für gestrandete oder verletzte Wale und Delfine.

VON Robert Felgentreu

Die Spirit macht 25 Knoten in der Spitze. Unbeirrt lehnt sich das kleine Boot gegen die Wellen, die der Levante ge- nannte Ostwind unerbittlich heranbläst, taucht auf und ab und schleudert von links nach rechts. Unsere Fahrtrichtung ist klar: Afrika. Man kann es von hier aus sehen. Kein Wunder, wir sind auf dem Estrecho de Gibraltar – der Straße von Gibraltar. Nirgends sonst sind sich Europa und Afrika so nahe. Hier, wo sich vor Urzeiten die Kontinentalplatten voneinander lösten, machten sie Platz für das Wasser, das bis heute vom Atlantik scheinbar unerschöpflich ins Mittelmeer strömt, um es vor dem Austrocknen zu bewahren. Die Meerenge misst an der schmalsten Stelle gerade einmal 14 Kilometer und zählt inzwischen zu den am meisten befahrenen Schifffahrtsstraßen der Welt. Eine regelrechte Tankerautobahn, wenn man so will.

Als Katharina Heyer im Dezember 1997 zum ersten Mal mit einem gecharterten Boot auf den Estrecho hinausfuhr, veränderte dies nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch die Sicht der Welt auf die gesamte Meeresregion. »Ich wollte eine Freundin besuchen, die nach Südspa- nien gezogen war, und bekam den Tipp, einen Abstecher nach Tarifa zu machen. Wir fuhren aufs Meer und sahen auf Anhieb Grindwale und Delfine. Es gab da diesen Moment: Der Himmel war rabenschwarz und das Meer auch. Es gab nur einen schmalen goldenen Streifen am Horizont. Aus dem Nichts sprang ein Delfin senkrecht in die Luft und machte eine Schraube. Ein gewaltiger Sprung. Direkt danach sprangen zwei weitere. Erst von links, dann von rechts im Bogen auf exakt die gleiche Stelle, an der er abgetaucht war. Ein Bild, das ich nie mehr vergesse. Ich hole es hervor, wenn es mir mal nicht gut geht.« Katharina ist zu dieser Zeit eine der gefragtesten Modedesignerinnen der Schweiz, verbringt gut zwei Drittel ihres Lebens in Showrooms und Hotelzimmern auf der ganzen Welt.

Zurück in der Heimat berichtet sie von ihrem Erlebnis und will sich bei Wissenschaftlern erkundigen, welche Walarten in der Straße von Gibraltar leben. Die Antwort verschlägt ihr den Atem: keine. »Es existierten keinerlei wissenschaftliche Erhebungen über Populationen in der Region«, erzählt sie.

»ICH MEINE, DIE HIESIGEN FISCHER WUSSTEN SCHON, DASS ES HIER WALE GIBT, ABER ES INTERESSIERTE SIE NICHT. FÜR SIE GING ES NATÜRLICH UM DEN FISCH, DEN SIE VERKAUFEN KONNTEN.«

Katharina beschließt, ein Boot zu chartern. Sie sucht sich Mitstreiter und beginnt – bewaffnet mit Fotoapparat und Seekarten – über ihre Walsichtungen Buch zu führen und legt damit den Grundstein für die systematische Erforschung der Meereswelt zwischen Spanien und Marokko. Was sie zu Gesicht bekommt, hätte kaum jemand für möglich gehalten: Delfine, Grindwale, Orcas, Pottwale und sogar Finnwale – insgesamt sieben verschiedene Walarten leben und jagen das gesamte Jahr über in der Straße von Gibraltar. Einmalige Meeresströmungen sorgen in dem bis zu 1.000 m tiefen Gewässer für ein scheinbar unerschöpfliches Nahrungsangebot. Katharina stieß per Zufall auf die artenreichste und wahrscheinlich größte Walpopulation unseres Planeten – und das mitten auf einem der weltweit verkehrsreichsten Wasserwege.

Als die Spirit nach einer knappen Stunde ihre Geschwindigkeit drosselt und abrupt den Kurs ändert, ist allen klar, was das bedeutet. »Ein gutes Zeichen«, raunt mir ein Crew-Mitglied zu. Katharina hatte etwas durchgegeben. Wie immer steht sie als Einzige oben auf ihrem kleinen Spähturm und beobachtet mit geschultem Blick das Wasser. Kurz darauf erschallt ihre Stimme dreisprachig über die Lautsprecheranlage an Bord: »Eine große Schule Delfine vor uns auf zwei Uhr«, berichtet sie nacheinander auf Spanisch, Deutsch und Englisch. Ich schnappe mir die Kamera und haste wie die meisten Touristen zur Spitze des Bootes. Mit geladenen Digicams beobachten nun gut zwei Dutzend Augenpaare die wellige See durch die vor ihnen schwebenden Drei-Zoll-Monitore. Jedes Auftauchen der scheinbar ewig lächelnden Meeressäuger, jede Drehung, jeder Tanz auf der Bugwelle wird mit entrückter Begeisterung bejubelt. Wir drehen erneut. Eine Gruppe von Grindwalen nähert sich dem Boot.

KATHARINA KENNT SIE ALLE. HAT IHNEN NAMEN GEGEBEN UND STELLT SIE NUN EINZELN VOR.

Als würden die Tiere das Spiel kennen, choreographieren sie die Vorstellungsrunde mit abwechselndem Auf- und Abtauchen. Die besondere Beziehung zwischen der kleinen Frau auf dem Dach und den unablässig schnatternden und pfeifenden Walen vor uns ist für jeden an Bord spürbar.

Am Abend treffe ich Katharina in ihrem Büro. Hier sitzt sie in der Regel bis weit nach Mitternacht, schreibt Dienstpläne für den nächsten Tag, plant Touren und Kurse, beantwortet Mails und Anrufe mit einem ihrer vier Telefone und bearbeitet, was sonst noch nötig ist, um ihr kleines Unternehmen und ihre Stiftung zu führen. Die zierliche Frau wirkt frisch, nicht überarbeitet und mindestens zehn Jahre jünger als die 70 Jahre, die auf dem Papier stehen. Momentan kämpft sie mit Architekten, marokkanischen Behörden und potentiellen Investoren für die Umsetzung ihres bisher wichtigsten Projekts. In einer Bucht namens Ras Laflouka an der gegenüberliegenden Küste des Estrecho will sie ein Dolphin Sanctuary, eine Auffangstation für aus Delfinarien befreite Tümmler, und ein Tier-Lazarett für verletzte Meeressäuger errichten. Zu Beginn unseres Gesprächs spüre ich noch eine gewisse Vorsicht. »Als ich damals hierher kam, war es sehr schwierig«, erzählt sie. »Zum einen mussten wir erst einmal lernen, wie Forschung überhaupt geht. Damals gab es ja kein Google, wo man einfach mal nachschauen konnte. Zum anderen wurde ich in den ersten Jahren massiv bekämpft.

MEERBUSINESS WAR SCHON IMMER MACHOBUSINESS UND DANN KAM DA DIESE FRAU, NOCH DAZU EINE AUS- LÄNDERIN AUS DER SCHWEIZ, UND FÜHRTE REIHENWEISE TOURISTEN AUF IHR BOOT, DIE DAFÜR ZAHLTEN, WALE ZU BEOBACHTEN.

Die dachten, ich scheffle hier Millionen. Meine Schilder wurden zerstört, ich wurde denunziert und angezeigt, weil ich angeblich nicht genug Rettungswesten an Bord hatte, mein Auto wurde demoliert und einmal brannte mein Boot.« Inzwischen gibt es in Tarifa vier Anbieter von Whale-Watching-Ausflügen. »Denen geht es nur um die Kohle. Die heften sich an unsere Fersen und fahren, wenn es sein muss, direkt über die Tiergruppen. Hauptsache, es klingelt im Portemonnaie. Mir ist natürlich klar, dass, wenn wir Whale Watching machen, auch unser Boot ein Boot zu viel ist. Aber von Forschung allein können wir nicht leben und deshalb mussten wir etwas anbieten. Für mich hat es letztendlich nur gestimmt, weil wir zum einen auf jeder Fahrt Daten sammeln und außerdem die Möglichkeit bekommen, unsere Gäste zu sensibilisieren und auf die Ausbeutung der Ozeane und die Bedrohung der Wale aufmerksam zu machen. Wir Menschen schützen eben nur, was wir kennen und lieben«, zitiert sie mit Fingerzeig auf ein an der Wand hängendes Stück Papier, das diesen Satz als Aufschrift trägt. Über 150.000 Interessierte hat sie inzwischen in Ausflügen, Kursen und Gesprächen, auf Messen, Kongressen oder in Schulen an das Thema herangeführt. Sie berichtet vom Unterwasserlärm, der die geräuschempfindlichen Wale in die Orientierungslosigkeit treibt. Von Fähren und Frachtern, die ungeachtet der Geschwindigkeitsbegrenzung durch die Meerenge jagen und die Tiere bei Zusammenstößen regelrecht aufschlitzen. Denn anders als auf bundesdeutschen Fernstraßen, wo weißrote Hinweisschilder vor Wildwechsel, Krötenwanderung oder ausgebüxten Milchkühen warnen, sind die Tiere hier auf sich allein gestellt. Katharina spricht mit Fährkapitänen, Fischern und Unternehmern in der Region, schafft so zumindest ein Bewusstsein für die Problematik.

»AN DIE GROSSEN SCHIFFSUNTER- NEHMEN KOMMEN WIR NICHT RAN. ES INTERESSIERT SIE AUCH NICHT. WAS WIR TUN KÖNNEN, IST, DIESEN WAHN- SINNIGEN VERKEHR ZU REDUZIEREN.

Gerade wir in den Binnenländern – können wir nicht das essen, was in Europa wächst? Warum müssen es immer Kiwis aus Neuseeland sein? Wir passen einfach nicht auf im Supermarkt. Das kann jeder von uns. Genauso sieht es beim Thema Verpackung aus«, sagt sie weiter. »Die Meere sind voll von unserem Plastikmüll. Das ist eine riesige Bedrohung für die Tiere. Finnwale beispielsweise schwimmen mit offenem Maul und filtern dabei Krill und Plank- ton aus dem Wasser – ihre Nahrung. Immer häufiger landen Plastikabfälle in den Bäuchen und verstopfen ihre Mägen«, erklärt mir Katharina. »Die Tiere können keine Nahrung mehr aufneh- men und verhungern – ein qualvoller Tod. Hinzu kommt das wahrscheinlich größte Problem: die rücksichtslose Überfischung unserer Meere. Ein ausgewachsener Pottwal braucht pro Tag etwa 1,5 Tonnen Fisch. Früher oder später werden die Wale nicht mehr genügend Nahrung finden.« Dieses Früher oder Später schwankt je nach Optimismus oder Auftraggeber aktueller Studien zwischen 10 und 30 Jahren. So lange wird es bei anhaltendem Konsumniveau dauern, bis die Weltmeere leer gefischt sind. »Um den Artenreichtum der Ozeane zu erhalten, müssten wir Menschen unseren Fisch-Konsum sofort um 30 Prozent senken,« sagt Katharina. »Der rote Thunfisch beispielsweise, die Leibspeise der Killerwale genannten Orcas, ist massiv überfischt und steht auf der roten Liste der bedrohten Tierarten der IUCN. Auf dem Weg zum Laichen zieht er im Frühjahr hier hindurch, und wird von rücksichtslosen Fischereiunternehmen gefangen, bevor er sich fortpflanzen kann.« Dass es auch anders geht, möchte sie mir am nächsten Tag zeigen.

Die Ausfahrt zu den Orcas dauert insgesamt drei Stunden. Die See ist deutlich ruhiger. Wir fahren auf die winzigen hölzernen Boote der marokkanischen Fischer zu, die versuchen, auf traditionelle Art und Weise Thunfisch zu angeln. Katharina gesteht mir, dass sie nicht wirklich damit rechnet, um diese Jahreszeit noch Schwertwale anzutreffen. Umso erfreuter ist sie, als einer der Fischer per Handzeichen Richtung Osten weist. Und tatsächlich: Zielstrebig hechtet eine Gruppe Orcas samt Nachwuchs auf uns zu. Katharinas Freudenschrei über die Sprechanlage versetzt alle an Bord in Alarmbereitschaft. Die schwarz-weiß gefleckten Riesen kommen ganz nah an unser Boot. »Sie wollen uns ihr Junges zeigen«, erklärt Katharina. Als sie sich nach gut einer Stunde per Mikrofon von den Walen verabschiedet und die Rückkehr in den Hafen ankündigt, geschieht etwas Unglaubliches. Wie zum Ausdruck des Protestes beginnen die Tiere ein faszinierendes Schauspiel, springen durch die Lüfte, vollführen Kunststücke und surfen auf den von der Strömung produzierten Wellen neben unserem Boot. Ausnahmslos jeder ist fassungslos begeistert – inklusive Katharina.

»WAS FÜR EINE SHOW, WAS FÜR EIN ERLEBNIS! IN DER HOCHSAISON FAHRE ICH VIER BIS FÜNF MAL TÄGLICH RAUS. ABER DAS IST MIR GERADE RECHT. ICH MUSS EINFACH RAUS. ICH MEINE, DAS SPÜRST DU DA DRAUSSEN BEI DEN TIEREN. DAS SPÜRST DU NICHT DRINNEN IM BÜRO.«

Ihre Augen leuchten, beinahe wie ein Kind bejubelt sie das Spektakel. Nach unserer Rückkehr in den Hafen ver- abschiedet sich Katharina von jedem einzelnen Gast. Ich wünsche ihr einen guten Heimweg. »Das hier ist nicht mein Zuhause. Mein Zuhause ist in der Schweiz«, betont sie auch noch nach 14 Jahren. »Ich arbeite hier und gehe nur zum Schlafen in meine Wohnung. Ich wollte immer abschließen können und anfangs nach jeder Saison eigentlich nicht zurückkehren. Aber dann gab es immer wieder Erlebnisse wie die Einladung auf eine Ferienmesse, auf der mir klar wurde, dass wir unsere einwöchigen Kurse auch für Kinder anbieten mussten. Das ist mein Lebensweg. Ich wurde immer in etwas reingepusht, so dass ich wieder Spaß gefunden und noch ein Jahr drangehängt habe. Ich habe durchgehalten, weil ich bemerkt habe, dass es hier etwas zu tun gibt. Ich meine, ich habe nicht von Anfang an gewusst, was ich hier soll. Ich wusste, es kommt vielleicht noch einmal etwas anderes im Leben, ein tieferer Sinn. Aber ich hatte keine Vorstellung, kein Konzept oder irgendeine Vision.«

Nach drei Tagen in Tarifa habe ich verstanden, wofür sich Katharina seit so vielen Jahren einsetzt. Ich habe begriffen, welchen Gefahren die Wale und Delfine in der Straße von Gibraltar und überall auf der Welt ausgesetzt sind. Ich habe gesehen, welch dramatischen Einfluss Rücksichtslosigkeit und Unwissenheit auf die Lebenswelt in der Region haben. Ich bin Tieren begegnet, die hinsichtlich ihrer Intelligenz und ihres Sozialverhaltens mehr mit uns Menschen gemein zu haben scheinen, als wir womöglich zu akzeptieren bereit sind. Ich kam nach Tarifa, um eine ehemalige Modedesignerin zu treffen, die ihren Traum verwirklicht. Stattdessen traf ich auf eine Frau, die sich bedingungslos und gegen jede Schwierigkeit in den Dienst ihrer Aufgabe stellt. Das macht sie unantastbar. Daraus schöpft sie ihre Stärke.

Einen Tag, nachdem ich Katharina getroffen hatte, erfuhr sie aus Marokko, dass das Stück Land, auf dem sie ihr Dolphin Sanctuary errichten wollte und für das sie seit Jahren Pacht und Hafengebühren zahlt, ohne ihr Wissen an jemand anderen vergeben wurde. Die marokkanische Marine, erzählt man hinter vorgehaltener Hand. Befehl von ganz oben. Sie könnte jetzt aufgeben oder einen anderen Ort in der Nähe suchen, um ihre Pläne zu verwirklichen. »Ich bin noch in der Verdauungsphase«, sagt sie. Nur um Sekunden später anzufügen: »Gestern räumte ich mal alle alten Papiere weg, musste ausmisten, nun geht es mir langsam besser. Für die Delfine aus den Delfinarien muss ich es einfach machen.«

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