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Zwischen Schnee und Blitzlichtgewitter

2.000 Schafe aus Südtirol weiden jeden Sommer im österreichischen Ötztal. Ende August werden sie wieder zurückgetrieben. Der Weg führt nicht nur über Gletscher und Geröll, sondern auch Mensch und Tier an ihre Grenzen. Erinnerungen eines Schafes an einen Sommer.

VON Evi Lemberger

Da hat uns das Wetter wohl einen Strich durch die Rechnung gemacht. Eigentlich sollten wir bei solchen Bedingungen längst unten sein. Es schneit, es ist nass und kalt. Ich muss aufpassen, dass meine Hufen nicht auf dem feuchten Boden ausgleiten. Überall ist Gewimmel. 2.000 Schafe warten darauf, dass es los geht, zurück nach Hause ins Schnalstal in Südtirol. Stimmen, Geschnatter, Geblöke. Ich kaue nervös auf einem Grashalm. Momentan sind wir auf 2.500 Meter über dem Meeresspiegel. Jetzt gleich geht es zur Similaun-Hütte auf 3.100 Meter und dann wieder über das Niederjoch zu Vernagt am See auf 1.700 Meter. Sieben oder acht Stunden dauert der Weg, ziemlich zackig geht es rauf und runter.

Eigentlich alles nicht so schlimm – herwärts bin ich schließlich auch gekommen. Aber da war kein Schnee und über den Gletscher mussten wir auch nicht. Man hat mir Geschichten erzählt von anderen Schafen, die über die Klippen gesprungen und elendig verendet sind. Nervös machen mich auch die Blitzlichter. Die ganze Welt schaut heute auf uns. Oder zumindest die gesamte Terrasse der Almhütte mit all den Touristen und Fotografen und den anderen Wahnsinnigen, die sich die Tradition nicht entgehen lassen wollen. Die mögen uns, wir sind nämlich Weltkulturerbe, sagt UNESCO.

Der Schäfer und seine Helfer wandern zwischen den Gruppen, suchen, werfen noch einen letzten Blick auf uns. Endlich kommt Bewegung in die Massen. Um mich herum, so weit ich sehen kann, Beine, trotten gleichmäßig, gemächlich. Ich achte auf meinen Weg. Über meine Hufen stolpern oder gar mein Fell verdrecken – das wäre mir peinlich. Schließlich sind die Kameras auf uns gerichtet.

Unser Auslandsaufenthalt ist eine uralte Tradition. Die Idee wurde 1415 geboren, als das Schnalstal noch österreichisch war. In der Zeit reichte das Heu nicht für Winter und Sommer und deshalb bekamen die Schnalser Bauern Weideland auf den Venter Almen zugesprochen. Als dann 1919 nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzen neu gezogenen wurden, fielen wir an Südtirol, aber die Grundstücke im Ötztal blieben bei uns.

Weideland hätten wir jetzt auch auf der anderen Seite genug, aber wir kommen immer noch, von Juni bis August. Wegen der Tradition, der Liebe und vielleicht der EU-Fördergelder. Die Touristen kommen wegen uns, sagen sie, wir seien für die tollen Wanderwege verantwortlich und die sogenannte Kulturlandschaft schieben sie uns auch noch in die Hufen.

Es geht über Geröll und Gestein, steil und unwegsam. Ein paar Besserwisser, Rebellen und Möchtegerne laufen von der Menge weg, über den kleinen Bach, werden aber gleich wieder von den Schäfern und deren Hunden zurückgescheucht. Ich denke an den Sommer, der nun vorbei ist. Die Venter Weiden. Versteckspiel mit meinen Freunden. Vollmondgucken. Würziges grünes Gras.

Da oben wurde ich übrigens auch geboren, im letzten Jahr. Kurz bevor es nach Hause ging. Das war toll, denn da durfte ich in einen Korb und wurde während des Nachhausewegs von einem jungen Helfer getragen, sehr bequem. Dieses Jahr muss ich mit allen anderen gehen. Zum ersten Mal. Deswegen auch die Angst. Man hört ja viel. Ich sehe zu unserem Schäfer Johann Götsch. Es ist beruhigend, dass er da ist. Er kennt uns alle, jeden Einzelnen. Er sagt immer, genauso wie beim Menschen hat jedes Schaf sein eigenes Gesicht.

Ganz allein war er mit uns auf der Venter Weiden den Sommer über. Obwohl, so ganz stimmt das auch nicht, denn seine Frau wohnt seit Neuestem bei ihm, weil er eine neue Schäferhütte bekommen hat. Das ist endlich was Angemessenes für eine Dame, vor allem für eine aus dem Flachland. Zuvor lebte er in einem kleinen Verschlag, aus Stein gebaut. Ein Zimmer, Steinboden, sonst nichts. Der Johann (oder auch Giovanni) ist ein super Typ, total gelassen, lässt sich nicht stressen. Freunde von mir steckten schon in Spalten fest, verirrten sich oder hatten einfach Schiss – der Giovanni hat nie geschimpft und immer geholfen, auch wenn er sein eigenes Leben dabei riskiert hat.

Ich mag ihn, obwohl er eigentlich Metzger ist, im Winter. Schlimm war es nur, wenn er uns seinen Hund nachschickte. Der war so schnell und schrie so laut. Da kriegt man es schon mit der Angst zu tun – obwohl, gemacht hat er nie was. Über den Gletscher drüber hat geklappt, jetzt geht es noch einmal steil bergab. Ich habe Hunger und Durst. Meine Beine tun weh, mein Fell ist durchgeschwitzt.

Aber für Ablenkung und Unterhaltung ist gesorgt. Es gibt schließlich immer ein paar Sturböcke, die wollen einfach nicht heim und schlagen sich dann heimlich in die Büsche. Oder auch Nörgler, denen passt nie was. Oder einige andere, die aus der Reihe springen. Lustig sind auch die Touristen und Fotografen. Die wissen gar nicht, wie sie mit uns umgehen sollen. Manche wollen »Hallo« sagen und trauen sich nicht recht.

Schade, dass ich meine neu gewonnenen Freunde lange nicht mehr sehen werde. Oder vielleicht auch gar nicht mehr. Man weiß ja nie, was mit uns passiert.

EVI LEMBERGER (*1983) ist in Lam, Deutschland, geboren. Sie studierte am »London College of Comunication« und »International Center of Photograph«. Danach arbeitete sie als Fotografin und Journalistin in Ländern wie Russland, Ungarn, Bangladesch und Deutschland. Nebenbei stellt sie dabei ihre Arbeiten in Gruppen- und Einzelausstellungen in Deutschland, England und den USA aus. Im Moment lebt und arbeitet sie im Bayrischen Wald und in England. evilemberger.de

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