Eine der vielen Reisen mit der Transsibirischen Eisenbahn. Fahrtweg von Moskau nach Wladiwostok. Wegstrecke: 9.822 km. 400 Stationen innerhalb von sieben Tagen. Tausende von Reisenden. Viele russische Bürger leben fernab ihrer Heimat. Getrieben von schlechten Lebensbedingungen und geringem Einkommen haben sie ihr Zuhause verlassen, um in einer der Millionenstädte Russlands Arbeit und Glück zu finden. An Weihnachten kommen sie nach Hause. Ich fahre mit den Menschen auf der größten Verkehrsachse Russlands – und spreche mit ihnen über das Heimkommen, das Herkommen und das Leben dazwischen.
VON Evi Lemberger
NICOLAI, 25

Kirov > Omsk
Wegstrecke: 1.659 km
Fahrzeit: 28 h 42 min
Ich bin auf dem Weg nach Omsk. Nicht weil Weihnachten ist, sondern weil mir gekündigt wurde, nach fünfeinhalb Jahren. Ob Omsk mein Zuhause ist, weiß ich nicht. Ich war schon lange nicht mehr dort. Vielleicht ist Kirov meine Heimat, wo ich in den letzten fünf Jahren gelebt habe. Anfangs hat mir das Leben in dieser eingekapselten, in sich funktionierenden Welt nicht recht behagt, aber jetzt finde ich es toll. Ich grüße auf der Straße, jeder kennt jeden. In meiner Wohngemeinschaft teilt jeder alles mit den anderen. In Kirov habe ich an der Militärakademie gearbeitet, als eine Art Kontrolleur, aber die Regierung muss Einsparungen vornehmen. Jetzt, da ich die Stadt verlasse, merke ich, wie sehr ich meine Freunde vermissen werde. Wahrscheinlich sehe ich sie nie wieder.
OLGA, 24 & VIOLETTA, 2

Tjuemen > Amur
Wegstrecke: 4.865 km
Fahrzeit: 72 h
Meine zwei Leben, die ich führe, sind grundverschieden. In Tjuemen, wo ich studiere, bin ich das Mädchen Olga, das viel mit Freunden unternimmt, das Leben genießt und dazwischen ein bisschen lernt. Zu Hause in Amur bin ich Mutter und vor allem Ehefrau. 2007 habe ich meinen Mann geheiratet, we- gen seiner Arbeit sind wir in die Amur-Region gezogen. Die Stadt war früher sehr schön, mittlerweile hat sie ihr Ansehen verloren. Für unser Kind gibt keine Spielplätze, für mich kein Theater, und ich muss arbeiten, ansonsten könnten wir uns die Wohnung nicht leisten. Die Menschen sind sehr ernst hier. Ich freue mich auf meinen Mann und werde traurig sein, wenn ich wieder gehen muss. Aber bei meiner Abreise freue ich mich dann wieder auf meine Studienstadt.
Es dauert acht bis zehn Tage bis wir zu Hause sind. Ich verbringe meine Zeit damit, mit meiner Tochter zu malen, zu spielen und Geschichten vorzulesen. Langweilig wird es nicht. Wir sitzen in einem Großabteil und abgesehen davon, dass die Toilette ab und an streikt, ist hier immer etwas los. Wenn wir Hunger haben, essen wir schnelle Suppen und Kartoffeln, oder trinken ganz viel Tee mit Zucker. Früher haben wir immer Essen bei den Babuschkas geholt – den Frauen, die an den Haltestellen Essen verkaufen. Heute kaufe ich nur manchmal noch Fisch bei ihnen. Gerade bin ich unglaublich ungeduldig und möchte am liebsten aus dem Zug springen. Ich denke, genau so muss man fühlen, wenn man nach Hause kommt.
SVIARTHA (37)

Moskau > Wladiwostok
Wegstrecke: 9.298 km
Fahrzeit: 150 h 32 min
Ich fahre mit gemischten Gefühlen nach Hause, erwartungsvoll, aber auch mit Bedauern. Fünf Monate lang bin ich durch Russland gereist, habe Verwandte und Bekannte besucht, die ich schon ewig nicht mehr gesehen habe. Währenddessen hat mein Partner das Geschäft weitergeführt, sonst hätte ich es schließen müssen.
Es war spannend, unterwegs zu sein, das Land ist voller Gegensätze. Und es war toll, meine Freunde zu treffen. Man merkt zwar, dass man sich mit vielen nicht mehr wirklich versteht und es wenig zu sagen gibt, aber dennoch ist das Wiedersehen schön. Ein Highlight war meine Oma, die ich fünf Jahre lang nicht gesehen hatte. Eigentlich wollte ich in Moskau Silvester feiern, aber dann habe ich mich umentschieden, weil ich zu Hause bei meinen Liebsten sein wollte. Daher fahre ich jetzt sechs Tage im Gruppenabteil mit viel zu vielen anderen Menschen. Ich musste den Zug nehmen, weil ich zu viel Gepäck hatte. Es gibt da ein russisches Sprichwort: Alles was geht, nehme ich mit – und das habe ich mit vier Koffern wohl ganz gut erfüllt.
KATJA

Irkutsk > Schimanowski
Wegstrecke: 2.500 km
Fahrzeit: 44 h 5 min
Eigentlich habe ich es mir schöner vorgestellt, von zu Hause wegzugehen. Ich weiß nicht genau, warum. Ich bin zu meiner Schwester nach Irkutsk gezogen, weil ich dort unbedingt zur Schule gehen wollte. Ich kannte die Stadt, ich hatte sie fünfmal besucht – aber ich dachte, es wäre alles einfacher und leichter. In Irkutsk habe ich Sehnsucht nach zu Hause. Man merkt irgendwie erst dann, wenn man weggeht, dass es daheim am schönsten ist. Man kann sich ausruhen, alles ist so vertraut. Man weiß, wohin man gehen kann, welche Freunde man hat und was man wo bekommt. Zwar bin ich hier etwas unabhängiger, aber mit meiner Schwester habe ich sehr oft Streit. Was interessant ist: Die Leute zu Hause sind um einiges jünger in der Art und Weise, wie sie sind und was sie tun, als die Menschen in der Stadt.
Zu Hause möchte ich viel Sport treiben, von meinem Studiengang erzählen und einfach Weihnachten genießen. Jetzt bin ich sehr aufgeregt, aber ich freue mich, dass ich nicht alleine unterwegs bin. Im Zug habe ich ein paar Jungs kennengelernt und sie sind sehr unterhaltsam.
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